Profilbild von milkysilvermoon

milkysilvermoon

Lesejury Star
offline

milkysilvermoon ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit milkysilvermoon über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.10.2024

Vom Aufwachsen in einer zerrütteten Welt

Im Morgenlicht
0

Die Inselstadt Island City in der Zukunft: Die elfjährige Silvia, genannt Sil, und ihre Mutter stehen vor einem Neubeginn. Nach der Flucht aus ihrer schönen, aber kriegsversehrten Alten Heimat, über die ...

Die Inselstadt Island City in der Zukunft: Die elfjährige Silvia, genannt Sil, und ihre Mutter stehen vor einem Neubeginn. Nach der Flucht aus ihrer schönen, aber kriegsversehrten Alten Heimat, über die das Mädchen ebenso wenig weiß wie über ihren Vater, hat ihnen das Wiederansiedlungsprogramm eine Unterkunft im Hochhaus „Morgenlicht“ zugewiesen. In dem Gebäude arbeitet Ena, eine Verwandte, als Hausmeisterin. Doch schon bald bekommt Sil den Eindruck, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht….

„Im Morgenlicht“ ist ein dystopischer Roman von Téa Obreht.

Die Struktur des Romans ist durchdacht und sinnvoll: Auf einen kurzen Prolog folgen vier Teile (Bücher), die sich wiederum in kurze Kapitel gliedern. Die Handlung spielt überwiegend in einer offenbar fiktiven Inselstadt in nicht allzu ferner Zukunft, die jedoch nicht mit einer Jahreszahl definiert wird. Etwas schade ist, dass - anders als im amerikanischen Original - keine Landkarte beigefügt ist.

Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Sil, rückblickend, aber in chronologischer Reihenfolge. Der Prolog ist zeitlich nach dem eigentlichen Geschehen angesiedelt, was ihn verwirrend macht.

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman sehr überzeugt. Der Schreibstil ist atmosphärisch, voller starker Bilder und mit poetischen Anklängen. Namen und Bezeichnungen weisen Verbindungen zur Balkanregion auf, was leider aber nur Kenner ersichtlich ist.

Das Mädchen Sil steht im Fokus der Geschichte, eine sympathische und lebensnahe Figur. Ihre noch recht kindlichen Gedanken und Gefühle werden sehr gut deutlich. Die übrigen Charaktere wie ihre Mutter, Ena und weitere Personen bleiben größtenteils etwas geheimnisvoll und seltsam, was allerdings der Perspektive geschuldet ist und zur Geschichte passt.

Der Inhalt des Romans ist sehr speziell, denn es handelt sich um eine ungewöhnliche Mischung aus Dystopie und Coming of Age, kombiniert mit Elementen aus den Bereichen Mythen und Mystery. Das macht die Geschichte zu einer besonderen Lektüre, wie ich sie noch nicht gelesen habe. Aktuelle Bezüge wie die Folgen des Klimawandels und Migration aufgrund von Kriegen sind eingearbeitet.

Auf den fast 350 Seiten überrascht der Roman immer wieder mit neuen Einfällen und wird dadurch nicht langweilig. Obwohl beim Wordbuilding nicht alle Details erklärt werden und am Ende noch ein paar Fragen offen bleiben, konnte ich der Handlung gut folgen. Der Schluss wirkt stimmig.

Der deutsche Titel ist nahe am englischsprachigen Original („The Morningside“). Das stimmungsvolle deutsche Cover gefällt mir sogar besser als die amerikanische Version.

Mein Fazit:
„Im Morgenlicht“ von Téa Obreht ist ein ungewöhnliches und einzigartiges Lesevergnügen. Ein empfehlenswerter Roman, der mir noch länger in Erinnerung bleiben wird.

Veröffentlicht am 25.10.2024

Zu große Erwartungen

Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen
0

Regina Richter geht es im Grunde gut. Die Psychotherapeutin betreibt eine eigene Praxis. Dennoch ist die Mutter zweier Töchter mit ihrem Leben unzufrieden. Dass sie ihre Promotion und akademische Karriere ...

Regina Richter geht es im Grunde gut. Die Psychotherapeutin betreibt eine eigene Praxis. Dennoch ist die Mutter zweier Töchter mit ihrem Leben unzufrieden. Dass sie ihre Promotion und akademische Karriere zugunsten ihrer Familie zurückgestellt hat, hat sie nie überwunden. An Wanda und Antonia stellt sie nun übertrieben hohe Erwartungen. Damit können die beiden nur schwer umgehen…

„Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen“ ist ein Roman von Anna Brüggemann.

Die Struktur des Romans ist durchdacht und einleuchtend: Er besteht aus drei Teilen, die in insgesamt 65 kurze Kapitel untergliedert sind, und endet mit einem Epilog. Die Handlung umspannt die Jahre 1998 bis 2019.

Erzählt wird aus wechselnder Perspektive, aus der Sicht von Regina, Wanda und Antonia. Die Sprache ist ungekünstelt und unauffällig. Die anschaulichen, eindringlichen Beschreibungen vermitteln jedoch viel Atmosphäre.

Drei Frauen stehen im Mittelpunkt der Geschichte: Wie der Untertitel erahnen lässt, sind dies Mutter Regina und ihre beiden Töchter, wobei Antonia und Wanda mehr Raum einnehmen als die Mutter. Die Figuren werden mit viel psychologischer Tiefe dargestellt. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich sehr gut nachvollziehen. Leider verzichtet der Roman nicht auf Klischees und Stereotype, insbesondere was Regina angeht.

Auf inhaltlicher Ebene geht es um die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern. Dabei dreht es sich vor allen Dingen um Probleme, die durch gegenseitige Erwartungen entstehen können. Zudem wird erzählt, welche Auswirkungen mangelnde Mutterliebe haben kann. Das heißt, dysfunktionale Familiendynamiken stehen im Vordergrund. Dadurch regt die Lektüre an zum Nachdenken und Diskutieren. Darüber hinaus bietet der Roman viel Identifikationspotenzial.

Auf den rund 380 Seiten ist die Geschichte erstaunlich facettenreich. Sie ist allerdings ein wenig handlungsarm und weist einige Längen auf.

Das Cover empfinde ich als nichtssagend. Der Titel macht neugierig, erschließt sich mir aber nicht ganz.

Mein Fazit:
Mit „Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen“ hat mich Anna Brüggemann trotz des interessanten Themas leider nicht komplett überzeugt. Insgesamt ein lesenswerter Roman, wenn auch mit kleineren Schwächen.

Veröffentlicht am 16.10.2024

Wo das Rampenlicht Schatten wirft

Das Comeback
0

Seit etwa einem Jahr ist Grace Turner bei ihren Eltern in Anaheim untergetaucht. Einst war sie ein gefeierter Teenie-Star. Zuletzt stand sie kurz vor ihrer ersten Golden Globe-Nominierung. Nun will sie ...

Seit etwa einem Jahr ist Grace Turner bei ihren Eltern in Anaheim untergetaucht. Einst war sie ein gefeierter Teenie-Star. Zuletzt stand sie kurz vor ihrer ersten Golden Globe-Nominierung. Nun will sie sich ihr Leben zurückholen…

„Das Comeback“ ist der Debütroman von Ella Berman.

Die Struktur des Romans ist klar ersichtlich und einleuchtend: Auf einen kurzen Prolog folgen zwei Teile („Davor“ und „Danach“). Darüber hinaus ist die Geschichte in insgesamt 60 kurze Kapitel gegliedert. Der Roman endet mit einem Epilog.

Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Grace - zwar in chronologischer Reihenfolge, aber mit diversen Rückblenden. Der Schreibstil ist schnörkellos, aber dennoch atmosphärisch, eindringlich und anschaulich. Er ist geprägt von authentisch klingenden Dialogen.

Mit Grace steht eine interessante Figur im Fokus. Sehr gefallen hat mir, dass dieser Charakter mit viel psychologischer Tiefe ausgestattet ist. Ihre Fehler und Schwächen machen sie nicht ungeschränkt sympathisch, jedoch lebensnah. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich gut nachvollziehen.

Auf der inhaltlichen Ebene ist der Roman sehr aktuell: Es geht es um patriarchale Machtstrukturen in der Unterhaltungsindustrie. Die Geschichte stellt einen „Me too“-Fall dar, wobei die Autorin nicht auf wahre Begebenheiten eingeht. Phänomene wie Gaslighting und Grooming tauchen auf. Damit wirft der Roman ein Schlaglicht auf wichtige Themen wie den Machtmissbrauch, vor allem gegenüber Frauen. Er klärt auf, rüttelt wach, erschüttert und macht nachdenklich. Anderen Betroffenen, die nicht über ihre Erlebnisse und eventuelle Traumata sprechen können, verleiht die Geschichte eine Stimme. Weitere Aspekte wie Abhängigkeit von Alkohol und Drogen sorgen für Vielschichtigkeit.

Auf den mehr als 400 Seiten konnte mich die Story nicht nur berühren, sondern auch gut unterhalten. Schon nach wenigen Kapiteln hat sich ein Lesesog eingestellt, der dank weniger Längen bis zum Schluss erhalten geblieben ist. Die Handlung erscheint schlüssig.

Der deutsche Titel ist wortgetreu aus dem englischsprachigen Original („The Comeback“) übersetzt. Er passt meiner Ansicht nach gut zum Inhalt. Auch das Cover, ebenfalls eine sinnvolle Wahl, wurde übernommen.

Mein Fazit:
Mit „Das Comeback“ hat mich Ella Berman in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Ich hoffe, dass auch ihr zweiter Roman in Deutschland verlegt werden wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Thema
Veröffentlicht am 13.10.2024

Zwei gute Partien?

Intermezzo
0

Die Brüder Peter und Ivan Koubek haben gerade ihren Vater beerdigt. Peter (32) ist klug, erfolgreich und weltgewandt. Er arbeitet als Anwalt in Dublin. Ivan ist fast zehn Jahre jünger und introvertiert. ...

Die Brüder Peter und Ivan Koubek haben gerade ihren Vater beerdigt. Peter (32) ist klug, erfolgreich und weltgewandt. Er arbeitet als Anwalt in Dublin. Ivan ist fast zehn Jahre jünger und introvertiert. Er tourt als Profi-Schachspieler durch Irland. Die Brüder haben nicht viel gemeinsam und doch zwei Parallelen: die Trauer und Probleme in ihren Liebesbeziehungen.

„Intermezzo“ ist ein Roman von Sally Rooney.

Die Struktur des Romans ist klar und durchdacht: Er besteht aus drei Teilen und insgesamt 17 Kapiteln. Erzählt wird im Präsens und in chronologischer Reihenfolge aus wechselnder Perspektive, die sich stilistisch unterscheiden.

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman definitiv überzeugt. Der Schreibstil ist atmosphärisch, wortgewaltig, bildstark, einfühlsam und stellenweise poetisch. Die Dialoge klingen authentisch. Gelungen erscheint mir auch die deutsche Übersetzung von Zoë Beck.

Die beiden Brüder stehen eindeutig im Fokus der Geschichte. Die Charaktere wirken auf mich nicht sympathisch, aber lebensnah. Die Personen verfügen über viel psychologische Tiefe.

Auf inhaltlicher Ebene geht es diesmal zwar auch um Liebe und romantische Beziehungen, vorwiegend jedoch um die Familie. Wichtige Themen sind die Trauer und das Weiterleben nach einem Verlust. Dies macht die Geschichte ein wenig düster, aber auch bewegend und zum Nachdenken anregend.

Auf den fast 500 Seiten hat der Roman durchaus ein paar Längen. Überwiegend ist die Geschichte dennoch unterhaltsam und fesselnd, obwohl die Handlung recht übersichtlich bleibt.

Der deutsche Titel, ein Begriff aus der Schachwelt, der aus dem englischsprachigen Original wörtlich übernommen wurde, ist wegen seiner Mehrdeutigkeit eine gute Wahl. Auch das Cover gefällt mir.

Mein Fazit:
Mit „Intermezzo“ hat Sally Rooney einen lesenswerten und ausgereiften Roman geschrieben, der Lust darauf macht, auch ihre früheren Geschichten zu entdecken.

Veröffentlicht am 12.10.2024

Was oftmals ungesagt bleibt

Trauriger Tiger
0

Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer ...

Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat, daran erinnert sie sich detailliert. Die Wahl-Mexikanerin und gebürtige Französin Neige Sinno hat erst als Studentin die Entschlossenheit und den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen und vor Gericht gegen ihn auszusagen. Mit Mitte 40 findet sie schließlich die Worte, ihre traumatischen Erlebnisse in schriftlicher Form zu beschreiben…

„Trauriger Tiger“ ist ein autobiografisches Buch von Neige Sinno, das mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist.

Die Einordnung des non-fiktionalen Werkes in ein Genre ist schwierig: Ist es ein Memoir, wie die Autorin an einer Stelle des Buches behauptet, oder ein Lebensbericht, wie sie es an anderer Stelle tut? Oder handelt es sich gar um ein Essay, wie die letzten Seiten anmuten? Eindeutig lässt sich das Werk nicht zuordnen.

Stilistisch mäandert das Buch. Mal erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte und die Missbrauchserlebnisse nach, mal gibt sie auf essayistische Art ihre Reflexionen über Psychologie, Philosophie, Kriminalistik, Justiz und ähnliche Themen wider, mal zieht sie Verbindungen zur Weltliteratur, mal fügt sie Briefe und Zeitungsartikel ein. Zwar ist das Buch in zwei Teile untergliedert, die sie als Kapitel bezeichnet und die aus einigen mit Überschriften versehenen Passagen bestehen. Diese äußerliche Struktur sorgt jedoch nur bedingt für eine inhaltliche. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Schriftstellerin ihre Gedanken wie bei einem Bewusstseinsstrom nur unzureichend sortiert niedergeschrieben hat, denn sie springt thematisch immer wieder hin und her und erzeugt Redundanzen.

Die Sprache ist schnörkellos, oft nüchtern, sehr offen und direkt, aber nicht effekthaschend oder überdramatisierend. Zwar bedient sich der Autorin mittels Zitaten anderer Werke. Wie sie selbst betont, greift sie aber nicht auf das literarische Schreiben zurück. Manche Formulierungen haben sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht in Gänze erschlossen. Das mag jedoch gegebenenfalls an der deutschen Übersetzung liegen.

Die Stärke des Romans ist darin zu sehen, dass Sinno nicht nur die bloßen Fakten ihres Falls schildert und ihre persönlichen Umstände aufdröselt. Sie zieht auf den rund 300 Seiten Parallelen zu anderen Schicksalen, analysiert die Mechanismen des Missbrauchs und bietet Einblicke, wie es Opfern nach solchen Taten geht und wie sie mit diesen furchtbaren Erfahrungen weiterleben. Ihre Gedanken zu Aspekten wie der Prävention, Bestrafung und Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse finde ich sehr erhellend. Damit rüttelt sie nicht nur auf und setzt ein Schlaglicht auf das wichtige Thema des Kindesmissbrauchs, sondern liefert auch Denkanstöße für die Gesellschaft. Gleichzeitig gibt sie anderen Betroffenen, die sich kein Gehör verschaffen konnten, mit ihrem Buch eine Stimme.

Etwas schade ist, dass der Titel, der wortgetreu aus dem Französischen („Triste tigre“) ins Deutsche übertragen wurde, wohl von einem anderen Werk abgekupfert wurde. Das Cover ist in mehrfacher Hinsicht überzeugend, wobei es leider nicht die Autorin selbst darstellt, wie man auf den ersten Blick missverständlicherweise meinen könnte.

Mein Fazit:
Mit „Trauriger Tiger“ hat Neige Sinno einen wichtigen und interessanten Text geschrieben, der mich inhaltlich überzeugen konnte, aber auf sprachlicher und stilistischer Ebene schwächelt. Ein in seiner Form einzigartiges Buch.