Vom Aufwachsen in einer zerrütteten Welt
Im MorgenlichtDie Inselstadt Island City in der Zukunft: Die elfjährige Silvia, genannt Sil, und ihre Mutter stehen vor einem Neubeginn. Nach der Flucht aus ihrer schönen, aber kriegsversehrten Alten Heimat, über die ...
Die Inselstadt Island City in der Zukunft: Die elfjährige Silvia, genannt Sil, und ihre Mutter stehen vor einem Neubeginn. Nach der Flucht aus ihrer schönen, aber kriegsversehrten Alten Heimat, über die das Mädchen ebenso wenig weiß wie über ihren Vater, hat ihnen das Wiederansiedlungsprogramm eine Unterkunft im Hochhaus „Morgenlicht“ zugewiesen. In dem Gebäude arbeitet Ena, eine Verwandte, als Hausmeisterin. Doch schon bald bekommt Sil den Eindruck, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht….
„Im Morgenlicht“ ist ein dystopischer Roman von Téa Obreht.
Die Struktur des Romans ist durchdacht und sinnvoll: Auf einen kurzen Prolog folgen vier Teile (Bücher), die sich wiederum in kurze Kapitel gliedern. Die Handlung spielt überwiegend in einer offenbar fiktiven Inselstadt in nicht allzu ferner Zukunft, die jedoch nicht mit einer Jahreszahl definiert wird. Etwas schade ist, dass - anders als im amerikanischen Original - keine Landkarte beigefügt ist.
Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Sil, rückblickend, aber in chronologischer Reihenfolge. Der Prolog ist zeitlich nach dem eigentlichen Geschehen angesiedelt, was ihn verwirrend macht.
In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman sehr überzeugt. Der Schreibstil ist atmosphärisch, voller starker Bilder und mit poetischen Anklängen. Namen und Bezeichnungen weisen Verbindungen zur Balkanregion auf, was leider aber nur Kenner ersichtlich ist.
Das Mädchen Sil steht im Fokus der Geschichte, eine sympathische und lebensnahe Figur. Ihre noch recht kindlichen Gedanken und Gefühle werden sehr gut deutlich. Die übrigen Charaktere wie ihre Mutter, Ena und weitere Personen bleiben größtenteils etwas geheimnisvoll und seltsam, was allerdings der Perspektive geschuldet ist und zur Geschichte passt.
Der Inhalt des Romans ist sehr speziell, denn es handelt sich um eine ungewöhnliche Mischung aus Dystopie und Coming of Age, kombiniert mit Elementen aus den Bereichen Mythen und Mystery. Das macht die Geschichte zu einer besonderen Lektüre, wie ich sie noch nicht gelesen habe. Aktuelle Bezüge wie die Folgen des Klimawandels und Migration aufgrund von Kriegen sind eingearbeitet.
Auf den fast 350 Seiten überrascht der Roman immer wieder mit neuen Einfällen und wird dadurch nicht langweilig. Obwohl beim Wordbuilding nicht alle Details erklärt werden und am Ende noch ein paar Fragen offen bleiben, konnte ich der Handlung gut folgen. Der Schluss wirkt stimmig.
Der deutsche Titel ist nahe am englischsprachigen Original („The Morningside“). Das stimmungsvolle deutsche Cover gefällt mir sogar besser als die amerikanische Version.
Mein Fazit:
„Im Morgenlicht“ von Téa Obreht ist ein ungewöhnliches und einzigartiges Lesevergnügen. Ein empfehlenswerter Roman, der mir noch länger in Erinnerung bleiben wird.