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Veröffentlicht am 27.07.2024

Eine feine, kleine Lektüre

Wo ich mich finde
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„Wo ich mich finde“ von Jhumpa Lahiri ist eine Sammlung von Anekdoten und Szenen, direkt aus dem Leben der Mitte 40jährigen Ich-Erzählerin gegriffen. Eine scheue Einzelgängerin ist sie, streift durch die ...

„Wo ich mich finde“ von Jhumpa Lahiri ist eine Sammlung von Anekdoten und Szenen, direkt aus dem Leben der Mitte 40jährigen Ich-Erzählerin gegriffen. Eine scheue Einzelgängerin ist sie, streift durch die Stadt und sucht die ihr vertrauten Plätze auf; begegnet Menschen, alten Bekannten und Wildfremden, die sie sehr aufmerksam und gleichzeitig distanziert, nicht ohne ein gewisses Befremden, beobachtet. Ihr nackter, unverstellter Blick gleicht dem eines Kindes, beinahe staunend legt er sich auf die Welt und seine Bewohner.

Die kurzen Kapitel lassen sich unabhängig voneinander und angenehm flüssig lesen. Lahiri erzählt präzise und klar, mit einem mir sehr angenehmen Hauch Melancholie in der Stimme, vom Zauber des alltäglichen Lebens. Die Schilderungen aus der Ich-Perspektive muten dabei fast Tagebuchartig an und ich bin wirklich ein bisschen darin versunken. Eine feine, kleine Lektüre.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein toller Coming-of-Age Roman und vielversprechendes Debüt!

Die Gespenster von Demmin
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Larry (eigentlich Larissa aber wer heißt bitte schön so?), die Ich-Erzählerin des Romans, ist 15 und ein typischer Teenager - aufmüpfig und latent schlecht gelaunt. Um der Langeweile der Kleinstadt zu ...

Larry (eigentlich Larissa aber wer heißt bitte schön so?), die Ich-Erzählerin des Romans, ist 15 und ein typischer Teenager - aufmüpfig und latent schlecht gelaunt. Um der Langeweile der Kleinstadt zu entkommen widmet sie sich intensiv den Vorbereitungen für ihre Zukunft als furchtlose Kriegsreporterin in der Ferne und säubert nebenbei, gegen ein kleines Taschengeld, den Friedhof im Ort. Dabei schnackt sie gerne mit den alten Leuten, die viel zu erzählen haben und zuhören, das kann Larry sehr aufmerksam; und spüren kann sie sie auch, die Gespenster von Demmin.

Die alte Frau Dohlberg von nebenan packt indes ihre Sachen zusammen; mitnehmen ins Altenheim kann sie nicht viel und einfach alles dem Entrümpler überlassen, das geht auch nicht. So gleitet nun alles noch einmal durch ihre zittrigen Hände, jedes Stück ein Hüter der Vergangenheit und die Erinnerungen an die furchtbaren Geschehnisse kurz vor Kriegsende 1945 dringen schmerzhaft an die Oberfläche. Zu Hunderten haben sie sich damals selbst umgebracht, die Demminer, aus Angst vor der Roten Armee; haben sich einen Strick genommen oder wateten, die Kinder eng an den Körper gebunden, in die Peene.

Der Perspektivwechsel zwischen dem jungen Mädchen heute und den Erinnerungen der alten Dame empfand ich als starkes Stilmittel, das Verena Kessler gekonnt einsetzt, um sehr anschaulich und greifbar die Auswirkungen eines kollektiven Traumas bis in die nächsten Generationen aufzuzeigen. Wir haben es hier mit zwei glaubhaften Figuren zu tun, die mit großer Authentizität ein mir bisher unbekanntes, aufwühlendes Stück deutsche Geschichte erzählen und die ich sehr gerne ein Stück begleitet habe. Ein toller Coming-of-Age Roman und vielversprechendes Debüt!

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Wie ein Becher heiße Schokolade im Winter

Bären füttern verboten
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Kennt ihr diese Bücher, in denen alle Figuren irgendwie unglücklich und vom Schicksal gebeutelt sind, und trotzdem wärmen sie dir das Herz und lassen dich schon beim Lesen (und obwohl alles noch ziemlich ...

Kennt ihr diese Bücher, in denen alle Figuren irgendwie unglücklich und vom Schicksal gebeutelt sind, und trotzdem wärmen sie dir das Herz und lassen dich schon beim Lesen (und obwohl alles noch ziemlich sch...eibenkleister ist) mit einem guten Gefühl zurück? Mir ging es zuletzt bei der Lektüre von Rachel Joyces Harold Fry-Romanen so und „Bären füttern verboten“ von Rachel Elliott löste in mir genau dasselbe diffuse Glücksgefühl aus. Ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass es nicht den/die eine/n Protagonist*in gibt sondern viele (Haupt)Personen, die man begleitet und einem schnell das Gefühl vermitteln, sie gehörten zu einem, ins eigene kleine Dorf. Und die so liebenswürdig und spleenig sind, dass man sie ein bisschen bekloppt findet aber auch sofort liebgewinnt und direkt ins Abendgebet einschließen möchte.

Sydney ist fast 50 und läuft. Laufen und jedes noch so kleine Hindernis überwinden, Freerunning, das ist ihre Leidenschaft. Davonlaufen, nicht zurückblicken, einfach vergessen, immer weiter. Doch nun kehrt sie einer Eingebung folgend nach St. Ives zurück, in das kleine Fischerdorf an der Küste Cornwalls, in dem sie die Sommer ihrer Kindheit verbrachte und auch den Sommer, der diese auf einen Schlag beendete. Dort stellt sie sich ihren Dämonen und begegnet den unterschiedlichsten Menschen (und einem unfassbar sympathischen Hund); einfachen, guten Menschen mit bescheidenen Träumen und ausgestattet mit einer gehörigen Prise Hoffnung und Zuversicht, deren Leben alle wie in einem Mobile zusammenhängen und durch einen kleinen Schubs gehörig in Bewegung geraten.

Wie ein Becher heiße Schokolade im Winter ist dieser warmherzige Roman - humorvoll, positiv und mit genau der richtigen Dosis Tiefgang ein echter Seelentröster!

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein schönes, ein trauriges Buch

Mutter
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Melitta Brezniks „Mutter. Chronik eines Abschieds“ ist wenig überraschend ein sehr persönliches Buch, gerade für mich, spiegelt es doch viele Gefühle und Gedanken wieder, die mich in den letzten Monaten ...

Melitta Brezniks „Mutter. Chronik eines Abschieds“ ist wenig überraschend ein sehr persönliches Buch, gerade für mich, spiegelt es doch viele Gefühle und Gedanken wieder, die mich in den letzten Monaten mit meiner 2018 an ALS verstorbenen Mama auch begleitet haben. Die Autorin schildert auf sehr berührende, eindringliche Weise den langsamen Abschied, gewährt intime Einblicke in den sich stetig verändernden Alltag mit neuen Ritualen und den immer kleiner werdenden Radius, der unaufhaltsam auf ein Ziel zuläuft. Das widersprüchliche Gefühl, die restliche gemeinsame Zeit so gut wie möglich auskosten zu wollen und gleichzeitig die Luft abgeschnürt zu bekommen, von dieser Schwere; dieser Zwiespalt, den Angehörige von schwer Erkrankten verspüren, den geliebten Menschen einerseits nicht hergeben und andererseits nicht länger leiden sehen zu wollen; das dringliche Bewahren des letzten bisschen Würde im Angesicht der absoluten Machtlosigkeit. Mit großer Zärtlichkeit werden Gefühle beschrieben, die mir nur allzu vertraut sind und die Lektüre für mich dementsprechend schwer und schmerzhaft machten an mancher Stelle. Aber es ist dennoch tröstlich, zu spüren, dass man nicht alleine ist mit der Trauer, sich verstanden und gesehen fühlt. Überhaupt finde ich es sehr interessant zu sehen, wie sehr der Abschied von der Mutter, DER zentralen Figur im Leben eines Menschen, sich zu gleichen scheint; wie vertraut mir vieles war, dass die Autorin schildert, wie deutlich es mir vor Augen stand. Ein schönes, ein trauriges Buch. „Auf dein Leben, Mama.“

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Bewegende Erinnerungen

Iva atmet
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Ivas Vater liegt im Krankenhaus; er wird bald sterben. Iva sitzt bei ihm, auch wenn es ihr unangenehm ist, so nah, viel zu dicht. Den Vater mochte sie nicht besonders und auch nicht, was er war und doch ...

Ivas Vater liegt im Krankenhaus; er wird bald sterben. Iva sitzt bei ihm, auch wenn es ihr unangenehm ist, so nah, viel zu dicht. Den Vater mochte sie nicht besonders und auch nicht, was er war und doch muss sie jetzt bei ihm sein, es aushalten. Und während sie durch das mit geraubten Schätzen verschönerte Elternhaus in Dresden schleicht kommen die Erinnerungen zurück; an das, was gesagt wurde und noch viel mehr an das, was nicht gesagt wurde. Der Vater ein einflussreicher Richter und Profiteur des Holocaust, der Großvater ein Kriegsverbrecher, die Großmutter vertrieben aus Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), dem Land ihrer Kindheit, welches ihr nie zustand und doch bis zu deren Tod Objekt ihrer Sehnsucht blieb. Wenn Iva atmet spürt sie das trockene Laub in ihrer Lunge, all das Ungesagte hat sich dort angesammelt, in ordentlichen Häufchen, doch manchmal wirbelt alles wie wild durcheinander. Zu schwer lastet die Vergangenheit - auch auf ihrem Liebsten, Roy, einem wurzellosen Zirkusjungen, dessen Vater über den Recherchen zu Ivas Familie (und deren Machenschaften, für die sie nie zur Rechenschaft gezogen wurde) verrückt geworden ist. Und dann ist da noch die eigenartige, wilde Ismene, die Iva und ihre Welt ins Wanken bringt.

Amanda Lasker-Berlin widmet sich mit „Iva atmet“ dem schmerzhaften, doch spürbar brandaktuellen Thema der eigenen, historischen Schuld und des kollektiven Schweigens. Was macht dieses Verdrängen und Totschweigen mit uns und unseren Beziehungen zu den Menschen, die uns am nächsten sind? In kurzen, prägnanten Sätzen bekommen die kleinsten Dinge Bedeutung und Gewicht, möchten gesehen werden; sehr beeindruckend fand ich die wirklich starken, zwischenmenschlichen Momente. Die in kleinen Szenerien eingeworfenen Schilderungen der Grausamkeiten des Krieges sind keine leichte Kost und und bedürften meiner Meinung nach einer Triggerwarnung. Der Autorin ist hier ein berührendes Buch von großer Authentizität gelungen, das mich sehr bewegt hat.

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