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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine sanfte Melancholie

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
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„Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben ...

„Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. Er hieß Bobby Cole.“ S. 9

40 Jahre sind vergangen seit dem Sommer 1961, den Protagonist Frank Drum noch einmal Revue passieren lässt, seit der Tragödie, die das Ende seiner Kindheit markieren sollte. Frankie, 13 Jahre alt und das mittlere Kind einer Pastorenfamilie mit schottischen Wurzeln, wächst in einer kleinen Gründerstadt im weiten Westen Amerikas auf. Die Menschen kennen sich im beschaulichen New Bremen, haben ein Auge aufeinander, aber auch ihre Geheimnisse, eigenen Päckchen zu tragen. Von den Sorgen der Erwachsenen weitestgehend unberührt führen die Kinder ein unbeschwertes Leben, stromern am Ufer des Minnesota River umher, an den Bahngleisen und im Steinbruch; dies ist ihr Königreich, die ganze Welt zu ihren Füßen, den verlockenden Duft der Freiheit in der Nase. Doch dieser Sommer verändert alles, der Tod greift in den unterschiedlichsten Gestalten um sich und macht auch vor Frankies Familie nicht halt, zwingt den Jungen in die frühe Auseinandersetzung mit schweren Themen wie Schuld, Vergebung, Verlust, aber auch Zusammenhalt, Glaube und Akzeptanz; lässt ihn wachsen und begreifen, seinen eigenen Weg aus der Trauer finden.

„Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ von William Kent Krueger, übersetzt von Tanja Handels, ist ein dicht erzählter Coming of Age Roman, so spannend wie ein Krimi und mit einer Sogwirkung, die mich nur so durch die Seiten fliegen ließ. Die atmosphärische Stimmung, einfühlsam gezeichneten vielschichtigen Figuren und zwischenmenschlichen Regungen konnten mich sehr begeistern. Eine sanfte Melancholie hängt über der Geschichte, die mich mit Wehmut an Filme wie „My Girl“ und „Stand by me“ erinnert hat. Leseempfehlung!

„Die Toten sind nie weit von uns entfernt. Sie sind in unseren Herzen und in unseren Köpfen, und am Ende trennt uns wirklich nur ein einziger Atemzug von ihnen, ein letzter Lufthauch.“ S. 413

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Vom Schreiben und Nichtschreiben

Wir hätten uns alles gesagt
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Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit ...

Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit mir selbst, meinem Leben zu tun; ich entdecke weniger für mich Interessantes je mehr ich davon lese, alles verschwimmt und driftet an mir vorbei. Und dann lese ich Judith Hermanns neues Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ und hatte (zum Glück) absolut keine Ahnung, dass es so persönlich ist, und bin einfach nur beglückt und entzückt.

„Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“ S. 19

Judith Hermann erzählt vom Schreiben und, fast noch mehr, vom Nichtschreiben, vom Weglassen, von den Gespenstern, immer nah am eigenen Leben entlang. Von Familie und Wahlfamilie erzählt sie, von ihrer Kindheit in Berlin mit den Eltern und der russischen Großmutter, einer Kindheit voller Rätsel und Ungewissheiten, unberechenbar und fragil, voll von Leerstellen. Vielleicht begann das Kind Judith ganz genau hier, in dieser Zeit des Alleinseins, zwischen den Zeilen zu begreifen, sensibel für die Leerstellen zwischen den Menschen zu werden, sie zu erkennen, die ungeheure Kraft des Verschweigens. Und vielleicht sind es genau diese Leerstellen in ihren Texten, die mir Raum geben, mich wie magisch anziehen, einladen eigene Gedanken beizusteuern. Die Vergänglichkeit und Gelassenheit atmen, nostalgische Gefühle wecken, eine tröstliche Sehnsucht. Ich schlüpfe in ihre Sätze hinein, mache sie mir zu eigen, beschwöre die Erinnerungen an meine eigene Kindheit und die meiner Kinder herauf, die Vergangenheit. Das vergangene Leben annehmen, sich versöhnen, loslassen. Innehalten. Stille.

„Sie sagte, du kannst ja wiederkommen, ein Trost, den ich damals nicht begriff. Aber heute, in meinem zweiundfünfzigsten Jahr, begreife ich ihn. Wie lange manche Dinge brauchen, bis sie dich erreichen.“ S. 86

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein sehr persönlicher Text, der unter die Haut geht

Maman
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Maman. Mama. Wenn jemand Mama sagt, horche ich auf. Fühle mich angesprochen. Spüre in mich hinein, in diesen Raum, den sie bewohnt. Wenn jemand Mama sagt, überfällt mich Traurigkeit.

Als meine Mutter ...

Maman. Mama. Wenn jemand Mama sagt, horche ich auf. Fühle mich angesprochen. Spüre in mich hinein, in diesen Raum, den sie bewohnt. Wenn jemand Mama sagt, überfällt mich Traurigkeit.

Als meine Mutter vor 5 Jahren starb war sie Anfang 60, ähnlich alt wie auch Sylvie Schenks Mutter Renée. Nicht mehr jung, aber doch so früh, dass ich mich um das letzte gemeinsame Stück des Weges betrogen fühle. Es gibt vieles, was ich nicht über sie weiß, nie wissen werde. Was ich weiß: Meine Mutter war das Zentrum unserer Familie. Es ist heute noch so leer, als sei sie gerade erst gegangen. Wir Zurückgelassenen kreisen um diesen Hohlraum, ihn zu überwinden oder gar neu zu füllen will uns nicht gelingen. Was ich auch weiß: Dieses Hadern mit Angelegenheiten die nicht mehr besprochen, geklärt, erklärt werden können, die ich nur noch mit mir alleine ausmachen kann, irgendwie annehmen muss, das bleibt. Ein ewiger Mangel an etwas für mich Undefinierbarem, Essentiellem. Die Suche nach meiner Mutter, nach dem Kern ihres Wesens, beginnt zwangsläufig wo ich mich selbst und mein Innerstes erforsche, mein Frausein, mein Muttersein, meinen Ursprung.

Sylvie Schenks Annäherung an ihre Mutter ist ehrlich und ungeschönt, der kritische Blick einer emanzipierten Tochter; ein Blick, der ganz ihr eigener ist, den keins ihrer vier Geschwister teilt. Dem mitunter zu große Strenge vorgeworfen wird. Ich kenne diesen Blick gut und auch die Differenz der Wahrheiten, dessen was sich für jeden einzelnen wahr anfühlt. Denn hat nicht ein jedes Kind seine ganz eigene Sicht auf diesen Menschen, zutiefst individuelle Erfahrungen gemacht, Liebkosungen und Kränkungen erlebt? Sylvie beschreibt hier eine sich entziehende Mutter, die Körperlichkeiten verabscheute, abgewandt war, nicht (an)greifbar. Sich nicht liebende Eltern, eine arrangierte Ehe, in der sich beide arrangierten. Klaffende Lücken in der Vergangenheit, Unklarheiten die eine innere Unruhe hervorrufen. Vererbte Traumata, Schicksale, die sich zu wiederholen scheinen, bis da wie zur Erlösung aller Flore ist, endlich, ein gewünschtes Kind. Ein sehr persönlicher Text, der unter die Haut geht, distanziert und dann wieder überraschend zart. Große Empfehlung!

„Meine Mutter entgleitet mir. Sie fließt mir davon, eine innere Blutung, ich muss versuchen, sie festzuhalten, sie wiederzufin-den. Ja, sie war erdrückt und entrückt. Unsicher. Unwissend. Es gibt Leute mit einem festen Kern, um den herum sind ihnen Fleisch und Geist gewachsen. Und es gibt Leute wie Maman, die eine Art schwebendes, undefiniertes Wesen haben. Wir sind alle vergänglich, sie aber war vergänglicher, fluider, ungreifbar. Sie hielt sich an der Türklinke fest, an der Teekanne, dem Strickzeug, dem Nähzeug, dem Einkaufskorb, dem Portemonnaie, den Kochtöpfen. Ihre Hände falteten Wäsche, stützten sich auf die Badewanne, in der die Wäsche eingeweicht wurde, sie öffneten Schränke […] Ihr Leben war ein Mosaik aus kleinen Handgriffen. Aber uns wird sie immer durch die Finger gleiten, eine sich entziehende Mutter.“ S. 115

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Der Rausch der ersten Liebe

Gidget. Mein Sommer in Malibu
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Oh, liebe Gidget, du bist einfach der Knaller! Sehr lange habe ich nicht mehr eine solch unbändige Freude an einer Romanfigur gehabt, wie an diesem 15jährigen Mädchen, das alle Regeln, allen gebotenen ...

Oh, liebe Gidget, du bist einfach der Knaller! Sehr lange habe ich nicht mehr eine solch unbändige Freude an einer Romanfigur gehabt, wie an diesem 15jährigen Mädchen, das alle Regeln, allen gebotenen Anstand über Bord wirft und hemmungslos die Wellen, diesen wilden Lebensraum der Jungs, für sich erobert. Franzie, wie Gidget eigentlich heißt, ist frech und schlau und nie um einen Spruch verlegen, auch wenn die Wahrheit in ihrem Interesse manches mal ein wenig zurechtgebogen werden muss.

Ein Sommer Mitte der 1950er Jahre, Hitze, heranrollende Wellen, hotte Chicks - die Strände Malibus gehören der Surfer-Crew rund um den legendären Kahoona, jungen Männern, die das Leben genießen und nicht an Morgen denken wollen. Und mittendrin: Gidget. 1,50 m klein, 43 kg leicht, ein Knirps, ein „Girl midget“ halt - Gidget. Dieser Spitzname ist ihr Eintritt in die Welt der Männer, der Surfer, ein einziges Abenteuer. Und Gidget schöpft es mit vollen Händen aus, wie im Rausch erlebt sie die erste wunderbar verrückte Liebe, doch vor allem ist sie dem Surfen mit Haut und Haaren verfallen.

Meinen allergrößten Respekt für diesen damals 50jährigen Frederick Kohner, der mit einer augescheinlichen Leichtigkeit das Lebensgefühl dieses jungen Mädchens skizziert, die Selbstermächtigung seiner Tochter Kathy so lustig und zärtlich eingefangen hat, dass ich direkt nochmal jung sein möchte. Und danke auch Volker Weidermann für das berührende Nachwort. Ich habe dieses Buch gestern ganz selig und glücklich zugeklappt, nichts anderes wünsche ich mir von einem Buch.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Tristesse als Nährboden für asoziale Verhaltensweisen

Der Kaninchenstall
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Das fiktive Vacca Vale im nicht-fiktiven „Rust Belt“ im Nordosten der USA. Früher eine boomende Industrieregion, ist sie heute geprägt von Arbeitslosigkeit und Kriminalität, dem urbanen Verfall überlassen. ...

Das fiktive Vacca Vale im nicht-fiktiven „Rust Belt“ im Nordosten der USA. Früher eine boomende Industrieregion, ist sie heute geprägt von Arbeitslosigkeit und Kriminalität, dem urbanen Verfall überlassen. Mais und Sojabohnen soweit das Auge reicht. Ansonsten Dürre, lebloser Boden. In einem Wohnungskomplex treffen Leben aufeinander. Da ist Joan aus Apartment C2 mit ihren Plastikpflanzen, für echte fehlt ihr bisher der Mut und das Selbstvertrauen. Die junge Hope aus C8, die nichts lieber sein wollte als Mutter, und nun zu Hause mit ihrem Baby mit den gruseligen Augen und postpartalen Depressionen versumpft. Die drei Halbstarken in C4, durchs System gefallen und vergessen, die aus Langweile Tiere töten und ihrer neuen Mitbewohnerin opfern. Willkommen im Kaninchenstall!

Die 18jährige Blandine, ehemals Tiffany, verehrt die alten Mystikerinnen, allen voran Hildegard von Bingen; bewundert besonders deren Fähigkeit, ihren Körper zu verlassen und der Realität zu entfliehen, ihre Unantastbarkeit. Blandines Schicksal ist herzzerreißend und macht unglaublich wütend, ist es doch exemplarisch für die strukturellen Missstände in den USA. Die ersten 11 Jahre bei der Großmutter liegen im Dunkeln, da sind keinerlei Erinnerungen. Später eine Pflegefamilie, die sich bemühte, immerhin. WG-Leben quasi. Ein Highschool-Stipendium für das begabte Mädchen, eine vermeintliche Chance. Sie fällt auf mit ihrer ätherischen Aura, andere Jugendliche grenzen sie aus, ihr Theater-Lehrer erkennt und missbraucht ihren Hunger nach Liebe, nach Anerkennung.

Tess Guntys Debüt hat bereits einige Preise abgestaubt und das nur zu recht, denn es hat den Finger sowohl stilistisch als auch inhaltlich am Puls der Zeit. Guntys Sprache ist frisch und modern, humorvoll und emphatisch. Atmet Präsenz. All ihre Figuren struggeln mit den Anforderungen des Lebens, der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, den Barrieren, die soziale Netzwerke zwischen uns aufbauen. Einer Tristesse, die als Nährboden für asoziale Verhaltensweisen fungiert. Tiefer Einsamkeit. Doch hier und da blitzt sie selbst in diesem verfluchten Ort auf, die Menschlichkeit, wie ein helles Licht am Ende des Tunnels.

Sind es viele aktuelle Themen, die Gunty hier abhandelt? Definitiv. Hat man den Eindruck, die Autorin arbeite diese einfach ab, hangele sich daran entlang? Kein Stück. Für mich das Buch der Stunde und eine aufregende, neue Stimme aus Amerika, die ich im Blick behalten werde. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz – tolle Übersetzungsarbeit btw.

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