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Veröffentlicht am 26.04.2024

Welch eine literarische Neuentdeckung!

Hundswut
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Ein kleines Dorf in der bayerischen Provinz, 1932. Während die Nazis in München langsam ihre Macht ausbauen, reicht deren Arm noch nicht bis in die abgelegensten Winkel, lösen die Dorfbewohner, allen voran ...

Ein kleines Dorf in der bayerischen Provinz, 1932. Während die Nazis in München langsam ihre Macht ausbauen, reicht deren Arm noch nicht bis in die abgelegensten Winkel, lösen die Dorfbewohner, allen voran die mächtigsten Männer, ihre eigenen Probleme lieber selbst. Als mehrere Jugendliche entsetzlich verstümmelt und ermordet im Wald aufgefunden werden, vermuten sie dahinter zuerst das Werk eines Wolfes. Doch schnell ist auch dem größten Zweifler klar, dass diese Gräueltaten menschlichen Ursprungs sein müssen. Ein Übeltäter ist in dem Köhler Joseph auch schnell gefunden, einem großkopferten Außenseiter, der sich kaum am dörflichen Leben beteiligt und hat er nicht damals Sohn und Frau schon auf kaum erklärbare Weise verloren? Schnell sind alle Skrupel vergessen und eine Hetzjagd beginnt, die das Bild vom Menschen als hoch kultiviertes Wesen Lügen straft, alte Fehden an die Oberfläche schwemmt und auch vor mittelalterlichen Methoden nicht halt macht.

„Das, was da in der Mitte des Platzes an das Rad gebunden war, das, was da schrie und keifte und stank, das war kein Mensch […] Das war ein Dämon, eine Kreatur, ein Teufel, und sie taten das einzig Richtige. Gottes Werk oder nicht, das war ihm egal, glauben sollten die, die es nötig hatten. Toni musste nicht glauben, er wusste.“ S. 344

Daniel Alvarenga ist für mich eine echte Neuentdeckung, ein starker Erzähler, den ich im Blick behalten werde. Der gebürtige Berliner hat sich als Drehbuchautor bereits einen Namen gemacht und legt mit „Hundswut“ nun sein literarisches Debüt vor, das es wahrlich in sich hat. Wer Doris Knechts „Wald“ und Marie Brunntalers „Wolf“ mochte, gerne in das einfache, archaische Leben einer kleinen, auf den ersten Blick fest eingeschworenen Gemeinschaft eintaucht und Interesse an den Dynamiken in einer solchen hat, wird hier voll auf seine Kosten kommen, muss sich allerdings auch auf explizite Gewaltschilderungen einstellen. Und mit dem bayerischen Dialekt sollte man auch keine Probleme haben, der hier ziemlich stark ausgeprägt ist, was der Geschichte besondere Authentizität verleiht, für mich als Nordlicht aber auch eine kleine Herausforderung war.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Lesehighlight!

Kerbholz
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Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten ...

Eine englische Familie verunglückt 1978 an der wilden Küste Neuseelands mit dem Auto. Die Eltern sterben, ihre drei Kinder bleiben verletzt zurück und landen nach einigen Strapazen auf einer Farm mitten im Nirgendwo. Hier führen die älteren Leute Martha und Peters ein zurückgezogenes, naturverbundenes Dasein, nehmen die traumatisierten Geschwister jedoch bereitwillig, wenn auch nicht ganz uneigennützig bei sich auf. Ihr altes Leben unwiderruflich zwischen dichten Büschen und reißenden Flüssen begraben, gehen die Kinder sehr unterschiedlich mit ihrer neuen Situation um. Während das Mädchen sich gut einlebt und der Jüngste in seiner eigenen Welt versinkt, schmiedet der Älteste wacker Fluchtpläne. Er wird auf keinen Fall an diesem Ort bleiben, um keinen Preis der Welt.

In einem zweiten Handlungsstrang wird die Tante der Kinder 30 Jahre später in England über einen Fund informiert, der traurige Gewissheit bringt, aber auch Fragen aufwirft: menschliche Knochen mit ihrer DNA und direkt daneben ein Kerbholz, eine Art altertümlicher Schuldschein.

Menschen verschwinden, das ist eine traurige Tatsache. Manche tauchen irgendwann wieder auf, andere werden nur noch tot gefunden oder – schlimmstenfalls – nie wieder gesehen. Ein solches Szenario ist Gegenstand dieses großartigen Romans und wird von Carl Nixon (eine weitere grandiose Neuentdeckung für mich) mit feinem psychologischen Gespür und eingebettet in die raue Natur Neuseelands beleuchtet. Wie übersteht ein Kind den Verlust seiner Eltern und damit aller Gewissheiten, welche seelischen Ressourcen kann es mobilisieren, um nicht daran zu zerbrechen? Was bedeutet Familie und Zugehörigkeit, ein sicheres Zuhause, und können wir selbst entscheiden, glücklich zu sein, unser Schicksal anzunehmen?

Ich sag´s, wie es ist. „Kerbholz“ hat mich direkt in den Bann gezogen, enorm begeistert und überrascht. Ich bin nur so durch die Seiten geflogen und hab diese klug konstruierte, spannende Geschichte richtiggehend aufgesaugt, hab diese lebendige Sprache genossen, die eine intensive Atmosphäre verströmt und Tage später noch immer in mir nachklingt. Highlight!

Übersetzt von Jan Karsten.

„Der Mann lief weiter. Von nun an waren das Einzige, was für Katherine existierte, der nächste Schritt. (…) Viel später würde sie sich darüber ärgern, nicht besser auf den Weg, den sie zurücklegten, geachtet zu haben. (…) Jeder Ort, den sie erreichten, schien erst durch ihre Ankunft ins Leben gerufen zu werden. Und sobald sie weitergingen, war dieser Teil des Waldes auch schon wieder aus der Welt verschwunden. Nein, sie würde niemals allein zurückfinden, nicht in hundert Jahren.“ S. 92

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Für mich eine lohnende Leseerfahrung!

Dinosaurier auf anderen Planeten
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Kurzgeschichten haben für mich in letzter Zeit (und mit zunehmendem Alter wie ich vermute) einen besonderen Reiz entwickelt. Ich tauche buchstäblich in ihnen ab und kurz darauf wieder auf, erhasche nur ...

Kurzgeschichten haben für mich in letzter Zeit (und mit zunehmendem Alter wie ich vermute) einen besonderen Reiz entwickelt. Ich tauche buchstäblich in ihnen ab und kurz darauf wieder auf, erhasche nur einen kurzen Blick auf eine Szenerie und spinne sie in Gedanken vor und zurück - oder lasse sie genauso, wie sie ist. Das Unvollendete ist für mich dabei überhaupt kein Manko, im Gegenteil; ich mag dieses Ungewisse, das sich im Verborgenen abspielt, das Sichtbare erscheint mir mitunter langweilig und banal daneben. Alles scheint möglich, wenn (fast) nichts beschrieben wird.

Genau deshalb mag ich auch Danielle McLaughlins Erzählband „Dinosaurier auf anderen Planeten“ ausgesprochen gerne lesen. Der leicht melancholische Klang ihrer Sprache und auch die auf den ersten Blick eher tristen Begebenheiten ziehen mich sofort in den Bann; das Dunkle, Traurige, manchmal fast Verstörende, das zum Leben dazu gehört, fasziniert mich. Die menschlichen Schwächen zu ergründen finde ich interessanter als deren Stärken, ich mag in die Abgründe schauen, mag sehen, was hinter der Fassade lauert. McLaughlins aufmerksamer Blick sieht das, was die Menschen nicht zeigen wollen; was passiert, wenn der Stolz ihnen zwischen den Fingern zerrinnt und den rohen, verletzlichen Menschen zurücklässt. Für mich eine lohnende Leseerfahrung!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Von der Fragilität der menschlichen Seele

Chirú
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Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen ...

Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen vergleichbar; die Übersetzerin Julika Brandestini hat hier richtig gute Arbeit geleistet. Virtuos spielt die Autorin mit der Sprache in der ich deutlich zu spüren meine, dass es eine andere als die meine ist, ein anderer Rhythmus und Klang. Sie besticht durch glasklare Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin und eine beeindruckend wache, schonungslose Sicht auf das eigene Handeln und Fühlen sowie das Verhalten anderer.

Eleonora, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin, ist 38 als sie den 18jährigen Musikstudenten Chirú trifft und sich seiner annimmt. Ihre Beweggründe bleiben dabei erst einmal ziemlich unklar, fast schwammig, und mir fiel es in der ersten Hälfte des Buches schwer, die Beziehung der beiden einzuordnen und das Lehrerin-Schüler-Verhältnis zu begreifen. Diese beiden Begriffe sind für mich stark geprägt durch die Schule und eher kindliche Hobbies wie Sport oder Musikunterricht, doch hier handelt es sich vielmehr um eine Art Gesellschaftskunde, eine Einführung in die (höhere) Gesellschaft, die Bildung des noch formbaren Charakters. Die gehobenen Kreise, in denen besonders Eleonora sich bewegt, spielen dabei eine zentrale Rolle; sind mir aber bisweilen so fremd, dass es seine Zeit brauchte, bis ich mich an die Dialoge gewöhnt und auch Sympathien für die Protagonisten entwickelt hatte.

Was macht uns und unser Handeln aus, macht uns zu dem, was wir heute sind? Welche Rolle spielt die Liebe, die Verletzung, welche die Ablehnung? Dieser schmale Grat, das Ausbalancieren von Glück und Gefahr, dem der Mensch sich in den Beziehungen zu anderen aussetzt; der Fragilität der menschlichen Seele widmet Michela Murgia sich in „Chirú“ mit Bravour. Sicher nicht mein letztes Buch der Autorin!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ich liebe diese Verrückten!

Vater unser
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Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich ...

Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich selbst Österreicherin oder b. war ich früher selbst Österreicherin oder c. mag ich einfach die österreichische Literatur unheimlich gerne.

Familienzusammenführung (und Aufarbeitung) in der Klappse - klingt etwas surreal und crazy, ist es auch, dabei aber auch sehr herzerwärmend, berührend, traurig und humorvoll. Eva Gruber wird ins Spital eingeliefert, weil sie behauptet eine Kindergartengruppe erschossen zu haben, was schon ein starkes Stück ist und durchaus neugierig auf die Dame und deren Geschichte macht. Dort trifft sie dann zufällig auf ihren magersüchtigen, wirklich arg bedauernswerten Bruder Bernhard, zu dem sie vor Ewigkeiten den Kontakt abgebrochen hat und spätestens jetzt schwant einem so langsam, dass in der Familie vielleicht nicht alles perfekt lief. Wir begleiten die junge Protagonistin nun zurück in die Vergangenheit, begleiten ein sensibles Mädchen in sein fragiles Elternhaus; dabei bleibt immer etwas unklar was Sein und was Schein und wer hier eigentlich verrückt ist, die Grenzen zwischen Gesund und Krank verschwimmen, chapeau für diesen gelungenen Kniff, liebe Angela Lehner. Seit „Einer flog über das Kuckucksnest“ habe ich keine so liebenswert gezeichneten Verrückten mehr erlebt, eine große Leseempfehlung von mir.

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