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Veröffentlicht am 26.04.2024

Dieses Staunen vor der betörenden Schönheit unserer Welt

Memory Wall
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Die 74jährige Alma verliert langsam ihr Gedächtnis, Stück für Stück gleiten die Erinnerungen davon und mit ihnen auch ihre eigene Geschichte. Eine sogenannte „Memory Wall“ soll diesem Verlust entgegenwirken, ...

Die 74jährige Alma verliert langsam ihr Gedächtnis, Stück für Stück gleiten die Erinnerungen davon und mit ihnen auch ihre eigene Geschichte. Eine sogenannte „Memory Wall“ soll diesem Verlust entgegenwirken, eine Sammlung zahlreicher Fotos und auf Disketten gespeicherter, bewegter Bildsequenzen aus ihrer Vergangenheit sollen der Vergessenheit trotzen und Alma helfen, sich in der Gegenwart zurechtzufinden, sich wieder in dieser zu verankern. Zur Seite steht der in Kapstadt lebenden alten Dame Pheko, ein treuer Hausangestellter und alleinerziehender Vater, dessen Leben fest mit dem ihren verknüpft und dessen Zukunft durch Almas Demenzerkrankung ebenfalls bedroht ist. Und dann sind da noch Luvo, ein 15jähriger Waisenjunge, und Roger, Kleinkriminelle, die regelmäßig in Almas Haus einbrechen und deren persönlichste Erinnerungen systematisch nach Hinweisen auf den geheimen Fundort eines wertvollen Fossils durchkämmen, ihrem Schlüssel zu einem besseren Leben.

Auf gerade einmal 135 Seiten lotet Doerr hier die Frage aus, welche Bedeutung Erinnerungen für uns haben; was wir sind ohne sie. Und wie könnte eine Welt aussehen, in der unsere Gedanken nicht mehr uns alleine gehören, intimsten Geheimnisse nicht mehr sicher und Erinnerungen allen frei zugänglich sind? Diese Novelle hat (natürlich) nicht die Dichte seiner umfangreicheren Werke, doch beweist Doerr auch hier wieder ein unglaubliches Erzähltalent mit Liebe zum Detail. Das Tempo ist flott, ebenso der Wechsel zwischen den Figuren, die samt und sonders mit einem solchen Einfühlungsvermögen beschrieben sind, dass man sie sofort ins Herz schließen muss. Und immer steckt in Doerrs Geschichten auch diese große Ehrfurcht vor der Natur, dieses Staunen vor der betörenden Schönheit unserer Welt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Schmerzhafte Veränderungen aufs Lässigste verhandelt

Wald
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Marian ist ganz unten angekommen. Die ehemals erfolgreiche Modedesignerin hat alles verloren, mit der Bankenkrise und daraufhin ausbleibenden Kundschaft fing es an, falsche Entscheidungen und irrwitzige ...

Marian ist ganz unten angekommen. Die ehemals erfolgreiche Modedesignerin hat alles verloren, mit der Bankenkrise und daraufhin ausbleibenden Kundschaft fing es an, falsche Entscheidungen und irrwitzige Investitionen folgten und am Ende - der freie Fall, ohne Netz und doppelten Boden. Aufgeschlagen ist die Wienerin auf dem Land, in dem geerbten Häuschen ihrer verstorbenen Tante, das Marian in einem überaus klarsichtigen Moment ihrer Tochter Kim überschrieben hat. Hier darf sie bleiben, hier ist sie sicher, zumindest vor den Banken und Gläubigern. Wovor sie nicht fliehen kann, sind ihre Gedanken, und die sind trübe in diesem ersten Winter im Wald, das erfahren wir in Rückblenden; lernen die unabhängige Marian kennen, das gute Leben in Saus und Braus, als sie noch wer war, etwas zählte. Damit ist es nun vorbei, Ende, aus, Feierabend. Mit dem Geld und der Reputation sind auch die Freunde weg, die romantischen Liebschaften mit geistreichen Männern, Vergangenheit, stattdessen ist da Franz, Herr über die Ländereien, solide und bodenständig, einer, dessen Handschlag etwas wert ist, und bald das kleine Wörtchen HUR an Marians Tür.

Wie Marian die schmerzhaften Veränderungen reflektiert, Beziehungen und deren Motive verhandelt und sich das kleine, störrische Stückchen Land zum Freund macht, es erobert wie sie auch ihr eigenes Leben, ihren Stolz zurückerobert ist ein wahrer Lesegenuss. Was für ein tolles Buch, was für eine genial lässige Sprache, was für kluge Gedanken! Ich bin restlos begeistert (ihr merkt’s vielleicht) von meiner ersten Doris Knecht-Erfahrung (btw eins der schönsten Cover ever) und lege „Die Nachricht“ direkt mal ganz nach oben auf meinen Lesestapel.

„Und das war ihr schon auch bewusst, das war ihr klar, dass es hier in erster Linie darum ging, satt zu werden, und sie dachte in diesen ersten Wochen mit Franz viel nach. Über Abhängigkeiten und Verträge, über Selbstaufgabe, über den Preis eines Menschen und darüber, was man so wert war. Was sie so wert war. Wie viel sie bereit war zu zahlen und in welcher Währung.“ S. 204

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine sanfte Melancholie

Für eine kurze Zeit waren wir glücklich
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„Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben ...

„Das große Sterben des damaligen Sommers begann mit dem Tod eines Kindes, eines Jungen mit goldblondem Haar und einer dicken Brille, der auf der Bahnstrecke kurz hinter New Bremen in Minnesota ums Leben kam, zermalmt von tausend Tonnen Stahl, die über die Prärie Richtung South Dakota donnerten. Er hieß Bobby Cole.“ S. 9

40 Jahre sind vergangen seit dem Sommer 1961, den Protagonist Frank Drum noch einmal Revue passieren lässt, seit der Tragödie, die das Ende seiner Kindheit markieren sollte. Frankie, 13 Jahre alt und das mittlere Kind einer Pastorenfamilie mit schottischen Wurzeln, wächst in einer kleinen Gründerstadt im weiten Westen Amerikas auf. Die Menschen kennen sich im beschaulichen New Bremen, haben ein Auge aufeinander, aber auch ihre Geheimnisse, eigenen Päckchen zu tragen. Von den Sorgen der Erwachsenen weitestgehend unberührt führen die Kinder ein unbeschwertes Leben, stromern am Ufer des Minnesota River umher, an den Bahngleisen und im Steinbruch; dies ist ihr Königreich, die ganze Welt zu ihren Füßen, den verlockenden Duft der Freiheit in der Nase. Doch dieser Sommer verändert alles, der Tod greift in den unterschiedlichsten Gestalten um sich und macht auch vor Frankies Familie nicht halt, zwingt den Jungen in die frühe Auseinandersetzung mit schweren Themen wie Schuld, Vergebung, Verlust, aber auch Zusammenhalt, Glaube und Akzeptanz; lässt ihn wachsen und begreifen, seinen eigenen Weg aus der Trauer finden.

„Für eine kurze Zeit waren wir glücklich“ von William Kent Krueger, übersetzt von Tanja Handels, ist ein dicht erzählter Coming of Age Roman, so spannend wie ein Krimi und mit einer Sogwirkung, die mich nur so durch die Seiten fliegen ließ. Die atmosphärische Stimmung, einfühlsam gezeichneten vielschichtigen Figuren und zwischenmenschlichen Regungen konnten mich sehr begeistern. Eine sanfte Melancholie hängt über der Geschichte, die mich mit Wehmut an Filme wie „My Girl“ und „Stand by me“ erinnert hat. Leseempfehlung!

„Die Toten sind nie weit von uns entfernt. Sie sind in unseren Herzen und in unseren Köpfen, und am Ende trennt uns wirklich nur ein einziger Atemzug von ihnen, ein letzter Lufthauch.“ S. 413

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Vom Schreiben und Nichtschreiben

Wir hätten uns alles gesagt
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Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit ...

Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit mir selbst, meinem Leben zu tun; ich entdecke weniger für mich Interessantes je mehr ich davon lese, alles verschwimmt und driftet an mir vorbei. Und dann lese ich Judith Hermanns neues Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ und hatte (zum Glück) absolut keine Ahnung, dass es so persönlich ist, und bin einfach nur beglückt und entzückt.

„Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“ S. 19

Judith Hermann erzählt vom Schreiben und, fast noch mehr, vom Nichtschreiben, vom Weglassen, von den Gespenstern, immer nah am eigenen Leben entlang. Von Familie und Wahlfamilie erzählt sie, von ihrer Kindheit in Berlin mit den Eltern und der russischen Großmutter, einer Kindheit voller Rätsel und Ungewissheiten, unberechenbar und fragil, voll von Leerstellen. Vielleicht begann das Kind Judith ganz genau hier, in dieser Zeit des Alleinseins, zwischen den Zeilen zu begreifen, sensibel für die Leerstellen zwischen den Menschen zu werden, sie zu erkennen, die ungeheure Kraft des Verschweigens. Und vielleicht sind es genau diese Leerstellen in ihren Texten, die mir Raum geben, mich wie magisch anziehen, einladen eigene Gedanken beizusteuern. Die Vergänglichkeit und Gelassenheit atmen, nostalgische Gefühle wecken, eine tröstliche Sehnsucht. Ich schlüpfe in ihre Sätze hinein, mache sie mir zu eigen, beschwöre die Erinnerungen an meine eigene Kindheit und die meiner Kinder herauf, die Vergangenheit. Das vergangene Leben annehmen, sich versöhnen, loslassen. Innehalten. Stille.

„Sie sagte, du kannst ja wiederkommen, ein Trost, den ich damals nicht begriff. Aber heute, in meinem zweiundfünfzigsten Jahr, begreife ich ihn. Wie lange manche Dinge brauchen, bis sie dich erreichen.“ S. 86

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Zu viel gewollt

Der Fischer und der Sohn
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Mustafa ist Fischer und lebt in einem kleinen Dorf an der Ägäis mit seiner Frau Mesude, doch ohne ihren Sohn Deniz, benannt nach dem Meer, den dasselbe ihnen mit nur 7 Jahren geraubt hatte. Freud und Leid, ...

Mustafa ist Fischer und lebt in einem kleinen Dorf an der Ägäis mit seiner Frau Mesude, doch ohne ihren Sohn Deniz, benannt nach dem Meer, den dasselbe ihnen mit nur 7 Jahren geraubt hatte. Freud und Leid, Leben und Tod liegen nah beieinander in dieser Welt, die von der Natur bestimmt wird. Die Trauer hat die noch jungen Eheleute gezeichnet, alle Freude ist aus ihren Körpern verschwunden, Liebe und Leidenschaft füreinander mit dem gemeinsamen Kind gestorben. Das in einem kleinen Schlauchboot auf dem Mittelmeer treibende Baby von Geflüchteten, ein Junge, ein neuer Sohn, erscheint Mustafa wie die Erhörung seiner Gebete, wie Allahs Wille, Schicksal, ‚kader‘. Entgegen ihrer Vernunft versteckt das Paar den Kleinen bei sich, füttert und liebt ihn, diesen zweiten Deniz, den das Meer ihnen so unverhofft geschenkt hat. Doch das Geheimnis bleibt nicht lange unbemerkt und ihre Liebe wird erneut einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt.

Zülfü Livaneli zählt zu den wichtigsten Stimmen der Türkei, ist als Musiker, Filmregisseur und Literat ohne Frage ein großer Kulturschaffender seines Landes. Sein neuer Roman „Der Fischer und der Sohn“, in der deutschen Übersetzung von Johannes Neuner, hat mich sofort gereizt, geht es doch um Elternschaft und den Verlust eines Kindes, die Zerrissenheit zwischen Moral und Sehnsucht, kurz: um existenzielle Fragen der Menschlichkeit. Livaneli greift neben der Familiengeschichte aktuelle Themen wie die desaströse Flüchtlingspolitik sowie die Klimakrise (und beider Auswirkungen auf die Region) auf; für mich besonders interessant, weil ich die Gegend kenne, von der er erzählt. Für mein Gefühl bieten die knapp 200 Seiten aber einfach nicht genug Raum, um all diesen Themen wirklich gerecht zu werden, mir fehlte ein wirkliches Eintauchen in die Geschichte. Gerade Mesude, die für mich spannendste Figur, blieb blass und meinem Inneren fern. Zu gerne wäre ich tiefer in ihre Gedanken- und Gefühlswelt eingedrungen, hätte ihren Schmerz, ihre Motive stärker nachempfunden, mehr Szenen wie die letzte des Buches gelesen, die ich sehr stark fand. So bleibe ich etwas zwiegespalten zurück, mit einer Empfehlung für euch, die mein Herz aber leider nicht ganz erreichen konnte.

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