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Veröffentlicht am 26.04.2024

Die Schönheit in den kleinen Dingen

Maud Martha
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„Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet.
Und Löwenzahn. Sie hätte auch ...

„Sie mochte Schokolinsen und Bücher und gemalte Musik (tiefblau oder zartsilbern) und den sich wandelnden Abendhimmel, von den Stufen der hinteren Veranda aus betrachtet.
Und Löwenzahn. Sie hätte auch Lotosblumen gemocht oder Sommerastern oder Japanische Iris oder Wiesenlilien - ja, auch Wiesenlilien, weil sie schon bei dem Wort «Wiese» begann, tiefer zu atmen, entzückt die Arme hochriss oder gern hochgerissen hätte, je nachdem, wer bei ihr war, hinauf zu dem, was da womöglich vom Himmel aus zuschaute. Aber hauptsächlich sah sie Löwenzahn. Gelbe Alltagsedelsteine, mit denen das geflickte grüne Kleid ihres Hinterhofs verziert war. Sie mochte diese nüchterne Schönheit, mehr noch aber ihre Alltäglichkeit, denn darin glaubte sie ein Abbild ihrer selbst zu erkennen, und es war tröstlich, dass etwas, was gewöhnlich war, gleichzeitig eine Blume sein konnte.“

So zauberhaft beginnt „Maud Martha“ von Gwendolyn Brooks, die als erste Schwarze für ihre Lyrik mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, und so einzigartig und poetisch geht es in ihrem einzigen Roman auch weiter. Bereits 1953 erschienen, hat der Manesse Verlag diesen nun zu unserem großen Glück von Andrea Ott ins Deutsche übersetzen lassen.

Maud Martha ist Schwarz und ein Mädchen zuerst, dann eine Frau; keine allzu guten Vorraussetzungen im rassistisch durchtränkten Amerika der 1950er-Jahre. In kleinen Anekdoten entfaltet sich ihr Leben vor uns, ein enges Leben, dem Begrenzungen aufgezwungen werden und an dem sie sich immer wieder stößt. Doch was ist das Besondere an diesem schmalen Buch, worin besteht der Zauber? Ich glaube, es ist die übersprudelnde Lebenskraft der Protagonistin, ihre innere Selbstsicherheit, die bewegt und inspiriert, und ihrer Zeit weit voraus ist. Deren Verweigerung, sich an Regeln zu halten, an den Rand der Gesellschaft drängen und klein halten zu lassen. Maud Marthas Fähigkeit, dem Alltag Poesie abzuringen, die Schönheit in den kleinen Dingen und in sich selbst zu sehen, wirklich zu sehen, wirklich zu fühlen. Ich behaupte, wer Jaqueline Woodson gerne liest, wird „Maud Martha“ lieben. Und alle anderen auch.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Tristesse als Nährboden für asoziale Verhaltensweisen

Der Kaninchenstall
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Das fiktive Vacca Vale im nicht-fiktiven „Rust Belt“ im Nordosten der USA. Früher eine boomende Industrieregion, ist sie heute geprägt von Arbeitslosigkeit und Kriminalität, dem urbanen Verfall überlassen. ...

Das fiktive Vacca Vale im nicht-fiktiven „Rust Belt“ im Nordosten der USA. Früher eine boomende Industrieregion, ist sie heute geprägt von Arbeitslosigkeit und Kriminalität, dem urbanen Verfall überlassen. Mais und Sojabohnen soweit das Auge reicht. Ansonsten Dürre, lebloser Boden. In einem Wohnungskomplex treffen Leben aufeinander. Da ist Joan aus Apartment C2 mit ihren Plastikpflanzen, für echte fehlt ihr bisher der Mut und das Selbstvertrauen. Die junge Hope aus C8, die nichts lieber sein wollte als Mutter, und nun zu Hause mit ihrem Baby mit den gruseligen Augen und postpartalen Depressionen versumpft. Die drei Halbstarken in C4, durchs System gefallen und vergessen, die aus Langweile Tiere töten und ihrer neuen Mitbewohnerin opfern. Willkommen im Kaninchenstall!

Die 18jährige Blandine, ehemals Tiffany, verehrt die alten Mystikerinnen, allen voran Hildegard von Bingen; bewundert besonders deren Fähigkeit, ihren Körper zu verlassen und der Realität zu entfliehen, ihre Unantastbarkeit. Blandines Schicksal ist herzzerreißend und macht unglaublich wütend, ist es doch exemplarisch für die strukturellen Missstände in den USA. Die ersten 11 Jahre bei der Großmutter liegen im Dunkeln, da sind keinerlei Erinnerungen. Später eine Pflegefamilie, die sich bemühte, immerhin. WG-Leben quasi. Ein Highschool-Stipendium für das begabte Mädchen, eine vermeintliche Chance. Sie fällt auf mit ihrer ätherischen Aura, andere Jugendliche grenzen sie aus, ihr Theater-Lehrer erkennt und missbraucht ihren Hunger nach Liebe, nach Anerkennung.

Tess Guntys Debüt hat bereits einige Preise abgestaubt und das nur zu recht, denn es hat den Finger sowohl stilistisch als auch inhaltlich am Puls der Zeit. Guntys Sprache ist frisch und modern, humorvoll und emphatisch. Atmet Präsenz. All ihre Figuren struggeln mit den Anforderungen des Lebens, der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation, den Barrieren, die soziale Netzwerke zwischen uns aufbauen. Einer Tristesse, die als Nährboden für asoziale Verhaltensweisen fungiert. Tiefer Einsamkeit. Doch hier und da blitzt sie selbst in diesem verfluchten Ort auf, die Menschlichkeit, wie ein helles Licht am Ende des Tunnels.

Sind es viele aktuelle Themen, die Gunty hier abhandelt? Definitiv. Hat man den Eindruck, die Autorin arbeite diese einfach ab, hangele sich daran entlang? Kein Stück. Für mich das Buch der Stunde und eine aufregende, neue Stimme aus Amerika, die ich im Blick behalten werde. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz – tolle Übersetzungsarbeit btw.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Vom Wagnis eines alternativen Lebens

Was in zwei Koffer passt
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Hände hoch, wer geht heute in die Kirche? Ich nicht. Ich stamme aus einem atheistischen Elternhaus und meine erheblichen Zweifel bezüglich der Institution Kirche an sich werden mich vermutlich auch in ...

Hände hoch, wer geht heute in die Kirche? Ich nicht. Ich stamme aus einem atheistischen Elternhaus und meine erheblichen Zweifel bezüglich der Institution Kirche an sich werden mich vermutlich auch in Zukunft davon abhalten. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen; ich neide allen Gläubigen ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Das fehlt mir. Vielleicht lebe ich deshalb immer noch in meinem Geburtsort und lese besonders gerne Geschichten, die sich in einem Mikrokosmos abspielen, in einem Dorf, auf einem Bauernhof oder eben in einem Kloster.

Mit 21 Jahren beschliesst Veronika Peters, Nonne zu werden. Dabei ist es weniger ihr starke Glaube, der diesen Entschluss untermauert, als der Wunsch nach gelebter Spiritualität, klarer Struktur. Einer erfüllenderen Lebensform jenseits kapitalistischer Werte und gesellschaftlicher Normen. Mit zwei Koffern in den Händen und einem mulmigen Gefühl im Bauch lässt die junge Frau ihr altes Leben hinter sich und zieht in ein benediktinisches Kloster. In klarer Sprache schildert Peters in diesem autobiographischen Bericht ihre persönliche Entwicklung während der nun folgenden 12 Klosterjahre, die äußeren und ganz besonders die in ihrem Inneren. Erzählt frei heraus von ihrem neuen Alltag mit all seinen Herausforderungen, von den Höhen und Tiefen, der stillen Freude am Miteinander, den leisen Zweifeln, die immer wieder aufkommen. Und von den großartigen Frauen, denen sie dort begegnet, und die außerhalb des Klosters in einem grotesk verzerrten Licht wahrgenommen werden. Diesen hartnäckigen Klischees stellt die Autorin einen verblüffend ehrlichen Text entgegen, der kein Glaubensbekenntnis ist oder sein möchte, sondern schlicht vom Wagnis eines alternativen Lebens erzählen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ganz viel Liebe für dieses Debüt

Nincshof
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Wir befinden uns im Jahre 2023 nach Christus. Die ganze Welt ist im Berühmtheitswahn. Die ganze Welt? Nein! Ein von munteren Rebellen bevölkertes Dorf in Österreich hört nicht auf, dem Erinnertwerden Widerstand ...

Wir befinden uns im Jahre 2023 nach Christus. Die ganze Welt ist im Berühmtheitswahn. Die ganze Welt? Nein! Ein von munteren Rebellen bevölkertes Dorf in Österreich hört nicht auf, dem Erinnertwerden Widerstand zu leisten. Nincshof liegt genau an der Grenze zu Ungarn im Burgenland, ein winzig kleines Dorf im Schilf. Die Sommer sind flirrend heiß und in genau so einem Sommer trägt sich auch diese Geschichte zu, die von leuchtenden Irrziegen und Oblivisten erzählt, von alten Legenden und neuen Dorfbewohnern, vom Erinnern und Vergessen und der Chance, die in beidem steckt. Erna Rohdiebl, Isa Bachgasser, Selma Sadić – „Nincshof“ ist bevölkert von klugen, emphatischen Frauen, die auf der Suche sind nach, ja, nach was eigentlich? Nach Glück irgendwie, dem Gefühl der Zugehörigkeit und echtem Zusammenhalt. Nach der unbedingten Anwesenheit im eigenen Leben würde Mariana Lekys Selma so treffend sagen.

Liebe Johanna, ich danke dir für diese märchenhafte Geschichte, die mich innerlich ganz arg gewärmt hat und aus der so viel Herzblut tropft, für all den groben Unfug, den du dir ausgedacht hast. Diese Liebeserklärung an die Menschen und das Erzählen, all die schönen Bilder, die du in meinem Kopf erzeugt hast. Für mich ist „Nincshof“ ein richtiger Feelgood-Dorfroman, der mich bestens unterhalten und in seiner Skurrilität tatsächlich an Mariana Leky erinnert hat, was wirklich eine Ehre ist. Ich hab so gelacht (an dieser Stelle herzlichste Grüße an die prustende Dame aus Reihe eins bei der Premiere letzte Woche, I get it now), hab mitgefühlt und mitgefiebert, mich einfach in die Geschichte hineinfallen lassen. Ganz viel Liebe für dieses Debüt!

„Auf ihrer Terrasse stand Erna Rohdiebl, blickte in den Himmel und erfreute sich an diesem flammenden Blau, das sich wolkenlos über einem weiteren lähmenden Julitag bog. Wahrscheinlich war es der Genügsamkeit geschuldet, die sich langsam an einen heranschlich und irgendwann nicht mehr fortging, während eines langen, mal gelebten, mal ertragenen Lebens, dass Erna Rohdiebl in jeder Jahreszeit, in jedem noch so brummenden Sommer, in jedem noch so klirrenden Winter etwas zu finden wusste, woran sie sich erfreuen konnte.“ S. 274

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Geniales Verwirrspiel

The Shards
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„The Shards“ war mein erstes Buch von Bret Easton Ellis und ich fand es – vielleicht genau deswegen – absolut großartig. Der Sound der 80er-Jahre in L.A. hat mich förmlich durchdrungen, diese Welt der ...

„The Shards“ war mein erstes Buch von Bret Easton Ellis und ich fand es – vielleicht genau deswegen – absolut großartig. Der Sound der 80er-Jahre in L.A. hat mich förmlich durchdrungen, diese Welt der reichen, verwöhnten und zumeist tödlich gelangweilten Kids, die sich Drogen wie Bonbons reinschmeißen und einfach treiben lassen. Vor ihnen, einer müden Verheißung gleich, die sichere Zukunft, eingemeißelt von Papis Geld und Einfluss. Bret heißt der Protagonist und das ist natürlich kein Zufall. Ellis jongliert hier gekonnt mit Phantasie und Wahrheit, lässt eigene Erfahrungen in den Plot einfließen während anderes ganz klar fiktiv ist und spielt so ein geniales Verwirrspiel mit den Lesenden. Bret ist 17 im diesem Sommer 1981 und in der Abschlussklasse der Highschool. Er gehört zu einer festen Clique, zu den coolsten, schönsten Kids und sieht dem letzten Schuljahr mit entspannter Gelassenheit entgegen, alles ist scheinbar bereits gelaufen und entschieden. Doch dann kommt überraschend ein neuer Junge in seine Klasse und die Dynamiken verschieben sich, Robert wird Teil der Gruppe und scheint die Freunde zu manipulieren, Spielchen zu spielen. Bret allein zweifelt Roberts gute Absichten, dessen Ehrlich- und Vertrauenswürdigkeit an und als ein Serienmörder im direkten Umfeld der Jugendlichen sein Unwesen zu treiben beginnt, nimmt ein Drama seinen Lauf, das wie ein Sturm über sie alle hinwegfegt und der Zeit jegliche Unschuld raubt.

Ich kenne natürlich den Film „American Psycho“ und (ohne viel Spoilern zu wollen) kann ich doch sagen, dass es gewisse Parallelen gibt. Ein Hang zur Grausamkeit und sehr explizite Sexszenen scheinen zu Ellis‘ Repertoire zu gehören, ebenso wie das Spiel mit der eigenen Wahrnehmung und das Einsetzen einer unzuverlässigen Erzählstimme. Dass der Autor in seinem neuen Roman nicht das eigene (literarische) Rad neu erfunden hat, ist klar, schaut man sich die Themen seiner Frühwerke an. Doch Ellis’ genaue Beobachtungsgabe, sein Talent winzige Details herauszuarbeiten, zu einem Ganzen zusammenzufügen und unterschwellige Spannung zu erzeugen sind beeindruckend. Für mich als Neuling eine höchst reizvolle, faszinierende Mischung, daher eine klare Leseempfehlung für diesen Pageturner.

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