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Veröffentlicht am 26.04.2024

Über einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen

Das andere Mädchen
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„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die ...

„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da. Die da, das bin ich.“ S.15

Dieser Schlüsselmoment ereignet sich im Sommer 1950, Annie ist zehn Jahre alt und wird Zeugin eines beiläufigen Gespräches zwischen ihrer Mutter und einer Bekannten, in dem diese Aussage fällt, die alles verändern und doch in die Sprachlosigkeit entgleiten und damit jeden direkten Vergleich, eine Ikonisierung der Verstorbenen verhindern wird. Dieses Geheimnis wird bis zum Tod der Eltern nie offiziell gelüftet, erst danach gibt es vereinzelt Gespräche mit Verwandten, ein paar Fotos; den Ansatz eines verschwommenen Bildes in Annies Kopf. Sie hat ihre Schwester ersetzt und das nicht einmal besonders gut. Ernaux schreibt über die große Schwester, von der sie fast nichts weiß, lange gar nichts wissen wollte, diesen Mythos einer Schwester, den sie bewusst auf Distanz hielt, und schreibt doch nicht über sie. Sie schreibt über sich selbst als Nachrückende, eine unsichtbare Lücke Ausfüllende, das ewig andere Mädchen. Nicht die trauernden Eltern, die diese meistens gut zu verbergen wussten, nicht die verstorbene Schwester, nein, sie selbst, Annie, ist im Fokus, ist die Leidtragende der Geschichte, und dieses Selbstverständnis, möglicherweise gewachsen aus dem ungeheuerlichen Urteil der Mutter, „sie war viel lieber als die da“, mutet bisweilen seltsam verzerrt an, offenbart sich in dieser Folgerung:

„Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“ S.33

„Das andere Mädchen“ thematisiert einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen, ist ein offener Brief und innerer Monolog, ein der Dringlichkeit am Erforschen der eigenen Wurzeln und Wunden entsprungener Essay, den ich gerne gelesen habe, wenngleich sich die große Begeisterung, die ich im Frühjahr bei der Lektüre von „Erinnerung eines Mädchens“ verspürt hatte, nicht gänzlich einzustellen vermochte. Aus dem Französischen von Sonja Finck.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Buch zum Eintauchen und Versinken

Die Kunst des Verschwindens
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„Die Kunst des Verschwindens“ beherrscht auf jeden Fall die Kunst des Verschwindenlassens, denn genau das hat diese Geschichte mit mir gemacht, hat mich eingesogen, bestens unterhalten und verzaubert. ...

„Die Kunst des Verschwindens“ beherrscht auf jeden Fall die Kunst des Verschwindenlassens, denn genau das hat diese Geschichte mit mir gemacht, hat mich eingesogen, bestens unterhalten und verzaubert. „Zwischen den Jahren“, das klingt nicht nur seltsam, nein, es passieren auch ganz und gar wunderliche Dinge in dieser Zeit, davon ist Nico felsenfest überzeugt. Als sie kurz vor Weihnachten die faszinierende Schauspielerin Ellen Kirsch kennenlernt, spürt sie sofort eine tiefe Verbundenheit mit dieser, fast wie Seelenverwandtschaft fühlt es sich an, fremd und doch vertraut. Mit Ellen bekommt Bekanntes neue Konturen, das Leben mehr Zauber, der Moment eine größere Bedeutung. Und dann ist Ellen so plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht ist, und Nicos Welt dreht sich weiter und ist doch nicht mehr dieselbe. Sie versucht zu begreifen, was passiert ist, und auf der Suche nach ihrer Freundin und deren Geheimnis kommt sie ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Vergangenheit näher, als sie sich je hätte vorstellen können.

Melanie Raabe widmet sich in ihrem ersten Roman der Freundschaft, der Magie eines einzigen Augenblicks, der Menschen verbindet und Leben für immer verändert. Ich mag diesen Hauch von Fantastischem, der durchaus denkbar erscheint, die Geschichte nicht dominiert sondern unterstreicht; diese Motive des magischen Realismus, derer die Autorin sich hier bedient. Ein wildes Reh, das mitten in der Stadt aus der Dunkelheit auftaucht, die leicht schmerzende Beule eines durchbrechenden Horns an Ellens Hinterkopf, Realität und Traum in fließendem Übergang. Ich kenne Raabes Thriller nicht, spüre dieses Genre aber auch hier auf jeder Seite, die ich wie im Rausch umblättere. Der Plot ist spannend erzählt, steigert sich, ändert stetig die Richtung, Twists und Schurken inklusive. Ich sehe den Roman schon verfilmt werden und genau das ist mein einziger echter Kritikpunkt. Ich mag es normalerweise nicht ganz so cineastisch und laut, mir sind die leisen Töne lieber, aber auch die kommen hier nicht zu kurz und trugen mich durch die Geschichte, mit ihrer zauberhaften Stimmung und versöhnlichen Botschaft . Ein schönes Weihnachtsgeschenk zum Wegschmökern zwischen den Tagen!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

ein Buch, das im wahrsten Sinne des Wortes neue Türen öffnet

Unser Teil der Nacht
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Von diesem aufregenden Buch möchte ich euch unbedingt erzählen, möchte versuchen meine große Begeisterung für diese so grausame wie zärtliche Geschichte zu teilen, in der Licht und Dunkelheit empfindlich ...

Von diesem aufregenden Buch möchte ich euch unbedingt erzählen, möchte versuchen meine große Begeisterung für diese so grausame wie zärtliche Geschichte zu teilen, in der Licht und Dunkelheit empfindlich nah beieinander liegen, die Grenzen des Möglichen komplett gesprengt werden. Entlang 40 Jahren argentinischer Geschichte, der von Unruhen und Extremen geprägten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erzählt Mariana Enriquez die Geschichte der wohlhabenden, matriarchalisch geprägten Familie Reyes Bradford, die all ihre Macht, ihren Einfluss geltend macht, um ihre dunklen Machenschaften zu vertuschen. Juan, als Junge adoptiert und das Medium des geheimen Ordens, versucht verzweifelt und mit allen Mitteln, seinen Sohn Gaspard vor demselben Schicksal zu beschützen, der Familie und ihrem zerstörerischen Bann zu entkommen.

Ich bin der Geschichte bedingungslos gefolgt, fast wie in Trance, hab mich in die Tiefen des Okkultismus führen lassen, in eine Welt der Finsternis, schwarzer Magie, der unseren nur scheinbar fern. Folgte Gaspard, sah ihn erwachsen werden, baute eine Bindung auf, die die Lesezeit überdauern wird. Die klug inszenierten unterschiedlichen Zeitebenen setzen die Handlung anschaulich in den historischen Kontext, nach und nach schärft sich das Bild, rückt jedes Puzzleteil an seinen Platz.

„Unser Teil der Nacht“ besitzt eine poetische Kraft, deren Sog sich zu entziehen schier unmöglich ist, die vergessen lässt, was Realität und was Fiktion ist, im wahrsten Sinne des Wortes neue Türen öffnet. Ein eindringliches literarisches Werk, das bleiben wird, im Kopf, im Herz, im Bauch, im Bücherregal, und das es an Intensität für mich mit Yanigaharas „Ein wenig Leben“ aufnehmen kann.

Aus dem Spanischen von Silke Kleemann und Inka Marter.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Verschwimmende Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion, Leben und Literatur

Roman d’amour
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Charlotte Moire hat ein Buch geschrieben und einen Preis gewonnen. Warum, versteht sie selbst nicht so genau, es ist eigentlich keine besonders innovative Geschichte, um Ehebruch geht es, um Liebe, die ...

Charlotte Moire hat ein Buch geschrieben und einen Preis gewonnen. Warum, versteht sie selbst nicht so genau, es ist eigentlich keine besonders innovative Geschichte, um Ehebruch geht es, um Liebe, die richtige wie die falsche. Nun heißt es „Roman d‘amour“ zu promoten, Gespräche zu führen, unter anderem mit Frau Sittich, einer Journalistin, die einen Radiobeitrag plant. Was als einfaches Interview beginnt entwickelt sich mit einer seltsam dringlichen Dynamik zu einem intensiven Schlagabtausch zwischen zwei Frauen, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken können, und gipfelt in der überraschenden Erkenntnis, was wirklich auf dem Spiel steht, was beide in die Waagschale werfen.

Mich hat Sylvie Schenks klarer Stil, ihr lebenskluger Scharfsinn bereits in „Schnell, dein Leben“ beeindruckt und ich bin wieder sehr angetan von diesem feinen Liebesroman, der auf gerade einmal 120 Seiten die manchmal schwer zu definierenden Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion, Leben und Literatur, Leidenschaft und Verantwortung auslotet. Eine Geschichte über des einen Liebe und des anderen Verrats, über das große Glück des Zusammenseins und verwüstete Herzen. Empfehlung!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Literatur zum Träumen

Ihr glücklichen Augen
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Mit Elke Heidenreichs Reisegeschichten klingt für mich gerade das Jahr aus und das fühlt sich sehr passend an. Es ist tatsächlich meine erste literarische Begegnung mit Frau Heidenreich und die Frau ist ...

Mit Elke Heidenreichs Reisegeschichten klingt für mich gerade das Jahr aus und das fühlt sich sehr passend an. Es ist tatsächlich meine erste literarische Begegnung mit Frau Heidenreich und die Frau ist mir auf Anhieb sympathisch, ihre saloppe Art gefällt mir, tut mir gut, einfach auch mal Fünfe gerade sein lassen. Gemeinsamkeiten zwischen uns beiden, unseren Lebensstilen und Reisen entdecke ich erstmal keine. Ich lebe ein sehr häusliches Leben, bin wenig gereist und noch seltener alleine, einfach durch Orte gestreift, ziellos und neugierig. Die Vorstellung gefällt mir und doch schreckt mich der Massentourismus enorm ab, die Vorstellung, mich durch Menschenmassen zu schieben, für die Einheimischen nicht von diesem unattraktiven Pulk an Schaulustigen zu unterscheiden zu sein. Heidenreichs ohne Frage sehr privilegierte Reiseerfahrungen lesen sich kurzweilig und unterhaltsam, manch eine Geschichte überblättere ich, weil ich mit Opern wirklich so gar nichts am Hut habe, andere sauge ich komplett auf und notiere mir direkt einen neuen Sehnsuchtsort. Ob ich diesen jemals wirklich sehen werde? Ich weiß es nicht, aber das macht mir gar nichts aus, solange es Literatur gibt, die mich zum Träumen bringen, weit fort und direkt in mein Innerstes reisen lassen kann.

„Was ist es, das mich Stadtkind auf solchen Reisen so glücklich macht? Ich erlebe ja im Grunde nichts - ich wandere, schaue, sitze im Pub, trinke, rede, ich bin Teil von irgendetwas, das so viel größer ist als ich. Geschichte, Leben, Tod, Jahrhunderte - alles ist eins, alles ist wichtig und zugleich völlig unbedeutend. Man spürt, was für eine grandiose Einheit Leben und Tod sind und dass der Tod nicht irgendwann kommt, sondern immer schon da ist, unserm Leben einen Sinn gibt und kein schauerliches Gerippe ist, sondern, wie in Hugo von Hofmannsthals Gedicht, » ein großer Gott der Seele«. Ich spüre auf solchen Reisen: meine Seele. Und wie schön es ist, dankbar alt zu werden.!“ S. 112

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