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Veröffentlicht am 26.04.2024

Familie mit allem, was dazu gehört

Zur See
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First things first - ich bewundere Dörte Hansen, bin ihren Geschichten hoffnungslos verfallen. In ihren atmosphärischen Settings fühle ich mich sofort heimisch, mache es mir gemütlich und wappne mich innerlich ...

First things first - ich bewundere Dörte Hansen, bin ihren Geschichten hoffnungslos verfallen. In ihren atmosphärischen Settings fühle ich mich sofort heimisch, mache es mir gemütlich und wappne mich innerlich dagegen, mein Herz an schroffe, wortkarge Figuren zu verlieren, wieder einmal. Doch was ist es genau, das mich so einfängt? Ich habe den rauen Charakter des Nordens im Verdacht, der all ihre Romane prägt, und diese tief empfundene Sympathie für Menschen, die bleiben statt zu gehen, die den Veränderungen trotzen. In mir steckt nordisches Blut (der DNA-Test bescheinigt mir knapp 60% skandinavische Herkunft, jawoll, da haben wir’s), die See zieht mich an, doch besonders rührt mich diese in jedem von Hansens Romanen skizzierte im Wandel begriffene Welt, die ihren Tribut fordert, Menschen hervorbringt, die nicht schnell genug hinterherkommen, deren Geerbtes stärker an ihnen zerrt als der Fortschritt. Verlierer in einer Zeit, die stetes Wachstum fordert.

Hansens neuer Roman führt uns an die Nordseeküste, zu Familie Sander, die auf schlappe 300 Jahre Seefahrtsgeschichte zurückblicken kann; in Mutter Hannes bilderbuchschönes Inselhäuschen, zur einsam gelegenen Vogelwarte, dem neuen Domizil von Vater Jens, den keine zehn Pferde mehr zurück aufs Wasser kriegen, familiäres Erbe hin oder her, und zu den drei erwachsenen Kindern, die ihre eigenen Päckchen zu tragen haben. Ihrer aller Leben ist fest verbunden mit der See, wird von deren Gunst bestimmt, dem Spiel der Gezeiten ausgesetzt. Nein, es ist kein sehr fröhliches Buch, das kann man nicht sagen, aber es ist auch nicht leicht, das Leben, und das darf auch mal gesagt werden. Und irgendwie geht es ja doch weiter und die Hoffnung läuft leise nebenher, einmal einen Schritt voraus, einmal einen hinterher. Um alte Liebe geht es, um Schuld und Einsamkeit, um Familie, mit allem was dazu gehört. Ich hätte mir ein paar Seiten zusätzlich und den Figuren noch mehr Tiefe, Griffigkeit gewünscht, aber es ist schon ein feiner Roman, den Frau Hansen uns hier wieder geschenkt hat.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman aus dem viktorianischen England

Lily
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Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, ...

Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, aber bald, das ist der jungen Frau klar, bald wird die gerechte Strafe sie ereilen. Zwischen ihr und dem Gesetz steht lediglich Sam Trench, der Mann der sie damals fand, als Baby von der eigenen Mutter in einem Londoner Park ausgesetzt, mitten im Winter, und der sie nie vergessen konnte, nie ganz aus den Augen verlor. Nicht bei den Pflegeeltern, die sie wie eine eigene Tochter liebten, nicht in den darauffolgenden, von Hoffnungslosigkeit und Verlustgefühlen geprägten, Jahren im Findelhaus, nicht als sie den Weg einer Perückenmacherin einschlägt, ihr Leben endlich in sicherere Bahnen leiten kann. Könnte, wäre da nicht dieser unbändige Wunsch nach Rache - und das Verlangen nach Sam, nach einem gemeinsamen Leben mit diesem aufrechten Mann, dessen Integrität und Überzeugungen durch beider Anziehungskraft auf eine harte Probe gestellt werden.

Ich habe als Jugendliche bereits sehr gerne klassische, englische Romane gelesen, Waisenmädchen hatten es mir damals schon angetan und ganz besonders Waisenmädchen im viktorianischen Zeitalter. „Sara, die kleine Prinzessin“ und „Jane Eyre“ ließen mich mitfühlen, bangen und hoffen wie kaum eine andere Geschichte, eine andere Protagonistin. Rose Tremains „Lily“ ist reifer, erwachsener, weniger illusorisch (oder habe bloß ich mich verändert?), und schlägt doch mitten hinein in diese Kerbe, holt Erinnerungen an diese besonderen Leseeefahrungen zurück, die fast körperlich waren, so intensiv litt ich mit den Mädchen, fühlte die Dunkelheit, die sie umgab, die Grausamkeiten, die sie erfuhren, aber auch das köstliche Glück reiner Herzensgüte, die Kraft wahrer Freundschaft. Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman mit einer Heldin, die man fest ins Herz schließen muss - perfekt für die dunklere Jahreszeit und eine große Empfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein sprachgewaltiges Debüt

Wir leben hier, seit wir geboren sind
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„Ihr Tod ist eine Bruchkante. Die Vergangenheit ist ins Tal gerutscht, die Gegenwart ein messerscharfer Grat, auf dem niemand Halt findet, kein Hund, kein Mensch, kein Maultier. Wir können hier nicht bleiben.“ ...

„Ihr Tod ist eine Bruchkante. Die Vergangenheit ist ins Tal gerutscht, die Gegenwart ein messerscharfer Grat, auf dem niemand Halt findet, kein Hund, kein Mensch, kein Maultier. Wir können hier nicht bleiben.“ S. 129

Fünf Mädchen wachsen in einem entlegenen, aus der Zeit gefallenen Dorf auf, das vom Kalkabbau lebt. Noch verbringen sie die Tage gemeinsam, zärtlich und neckisch im Spiel, doch schon bald werden sie ihren Müttern folgen, die ihren Müttern folgten; werden Frauen mit gesenkten Blicken, die sich jeden Morgen sorgsam wieder zusammensetzen, die Risse der Nacht vom Scheitel bis zur Scham kitten und die Spuren der Ehemänner auf ihren Körpern, in ihren Augen beseitigen, so gut es geht. Als ein junger Mann von außerhalb damit beauftragt wird, über die weitere Notwendigkeit des Steinbruchs und damit ihrer aller Zukunft zu entscheiden, beginnt das bisher starre Mobilé der Autoritäten zu schwanken, brechen alte Strukturen auf und die Dorfgemeinschaft unaufhaltsam in sich zusammen.

„Jeden Tag bilden Männer irgendwo auf der Welt einen Kreis um eine Frau, um sie zu steinigen“, schreibt Ernaux in „Erinnerung eines Mädchens“. Andreas Moster stellt diesen Männern all jene Mädchen entgegen, die ihre Stimme erheben und anklagen, jeden Tag, die irgendwo auf der Welt aufstehen und gehen. Mit wenigen poetischen Worten gelingt es dem Autor eine Geschichte von universeller Gültigkeit zu erzählen, vom Ende einer archaischen Ordnung und dem Mut zur Freiheit. Ein sprachgewaltiges Debüt (wirklich kaum zu glauben), das durchrüttelt und bewegt, dem eine große Sinnlichkeit und Schönheit innewohnt. Ein Highlight und von mir eine besondere Empfehlung für Fans von Irene Solà und Nell Leyshon.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Protagonistin, die mir im Herzen bleiben wird

Robinsons Tochter
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Polly Flint ist sechs Jahre alt als es die Vollwaise Anfang des 20. Jahrhunderts ins gelbe Haus ihrer beiden frommen Tanten spült, die englische Marschlandschaft ist noch fast gänzlich unberührt, erst ...

Polly Flint ist sechs Jahre alt als es die Vollwaise Anfang des 20. Jahrhunderts ins gelbe Haus ihrer beiden frommen Tanten spült, die englische Marschlandschaft ist noch fast gänzlich unberührt, erst die folgenden Jahrzehnte werden sie verändern und Polly ebenso. Das kluge Mädchen liebt seine Tanten und wird zurückgemocht, welch ein Glück, doch das eintönige, gottesfürchtige Leben behagt ihm kaum, da ist doch viel mehr zu entdecken, da muss doch mehr sein, in dieser weiten Welt. Einzig die umfangreiche Bibliothek bietet Polly Zugang zu dieser und ein Buch, eine Figur wird ihr ganz besonderer Freund. Kriege werden geführt, Menschen werden ins gelbe Haus herein und wieder hinaus geweht, leben, lieben und sterben, unstetig wie Hälmchen im Wind, doch wie ein Leuchtturm weist Robinson Crusoe dem Mädchen mit seinem Mut und unerschütterlichen Optimismus den Weg durch Jahre der Turbulenzen und Erschütterungen, bleibt eng an dessen Seite, so lange es nötig ist.

Ein so schönes Buch. Eine Geschichte, die mich im Mittelteil etwas auf die Probe gestellt und dann im letzten Drittel all ihren Zauber entfaltet hat, mit einer liebenswerten Protagonistin, die mir im Herzen bleiben wird. Eine Hommage an die Literatur und das Leben mit all seinen verschlungenen Pfaden, ich schließe das Buch mit einem wehmütigen Ziehen im Bauch und denke, so möchte ich auch einmal auf mein Leben zurückblicken, mit so viel Ruhe und Gelassenheit.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein intimer Einblick

Das glückliche Geheimnis
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Mit „Das glückliche Geheimnis“ lüftet Arno Geiger sein großes Lebensgeheimnis um ein regelrechtes Doppelleben, welches sich vor aller Augen und gleichzeitig abseits der Gesellschaft, an deren Rand abspielte, ...

Mit „Das glückliche Geheimnis“ lüftet Arno Geiger sein großes Lebensgeheimnis um ein regelrechtes Doppelleben, welches sich vor aller Augen und gleichzeitig abseits der Gesellschaft, an deren Rand abspielte, und bislang aus ebendiesem Grund wohl gehütet wurde. Doch nun ist es raus, die Katze ist aus dem Sack, der Schleier gelüftet: Über fast drei Jahrzehnte durchforstete der Schriftsteller regelmäßig die Wiener Altpapiercontainer auf der Suche nach Schönem, Brauchbarem, kurzum gut Verkaufbarem; wühlte kopfüber, beineraus im Müll nach papierenen Schätzen. Aus der finanziellen Not als mittelloser Student geboren, entwickelten sich diese Streifzüge schnell zu einem Quell der Glückseligkeit, zu einer Schule des Lebens, des Menschseins, und wurden auch mitnichten aufgegeben, nachdem sich der kommerzielle Erfolg als Autor mit dem Gewinn des Deutschen Buchpreises 2005 einstellte.

Ich mag Geigers schnörkellose Schreibe sehr, dessen klaren Blick, die (selbst)ironischen Töne, die Fähigkeit sich selbst und seiner Umwelt mit größtmöglicher Aufrichtigkeit und echtem Interesse zu begegnen. Er gewährt uns hier einen intimen Einblick in seinen Werdegang zum Schriftsteller, das Scheitern und Gelingen, den steten Prozess des Reifens zum Mann, des Erwachsenwerdens. Dazu gehörte auch ein recht bewegtes, kompliziertes Liebesleben, das ich in dieser Ausführlichkeit erzählt nicht gebraucht hätte, aber nun gut. Nehme ich hin, weil das Techtelmechtel von so einzigartigen, klugen Sätzen umrahmt ist, die ich ungerne verpasst hätte.

„Mich haben immer die Grauzonen angezogen, in den Grauzonen verbirgt sich das eigentlich Menschliche. In der Grauzone fordert der Mensch die Gesellschaft heraus, und in diesem Spannungsfeld entwickeln sich beide.“ S. 220

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