Heirat oder Beruf?
Wir nannten es FreiheitDie Autorin ist mir nicht unbekannt, jedoch kenne ich sie von Romanen, die in der Gegenwart spielen. "Sie nannten es Freiheit" ist ihr erster historischer Roman. Als historischer Vielleser bemerkte ich ...
Die Autorin ist mir nicht unbekannt, jedoch kenne ich sie von Romanen, die in der Gegenwart spielen. "Sie nannten es Freiheit" ist ihr erster historischer Roman. Als historischer Vielleser bemerkte ich das leider schon im ersten Leseabschnitt. Ich kann es aber nur gefühlsmäßig wiedergeben, dass ich dies so empfunden habe und mit den weiteren Seiten, die ich las, änderte sich dieses Gefühl zum Positiven.
Lene kommt aus einfachen Verhältnissen, ist jedoch eine wissbegierig und fleißige Schülerin. Nach ihrem Pflichtschulabschluss bekommt sie von den adeligen Arbeitgebern ihrer Mutter die Chance ein Lehrerinnenseminar zu besuchen. Dies war schon immer ihr Traum. Nach Abschluss ihrer Ausbildung erhält sie an einer Mädchenschule in Schöneberg, Berlin, die Stelle einer Vertretungslehrerin. Es ist 1916 und wir befinden uns mitten im ersten Weltkrieg. Immer mehr Lehrer werden eingezogen oder kommen nicht mehr aus dem Krieg zurück. Auch Paul, Lenes Verlobter, erhält die Einberufung für den Frontdienst. Lene, die überglücklich ist, als Lehrerin arbeiten zu dürfen, denkt jedoch mit gemischten Gefühlen an ihre Zukunft. Nach ihrer Heirat mit Paul dürfte sie nach dem Lehrerinnen-Zölibat nicht mehr unterrichten. Muss sie sich zwischen Paul und ihrem Beruf entscheiden, wenn der Krieg vorüber ist?
Das Schicksal schlägt zu und Paul kehrt verwundet aus Frankreich zurück. Ihm quält nicht nur sein steifes Bein, sondern auch Alpträume. Jede Nacht wecken ihn die Erinnerungen an die Zeit in den Schützengräben. Die Beziehung wird zu einer großen Belastungsprobe und die beiden entfernen sich immer mehr voneinander....
Die Autorin zeigt in ihrem Roman, wie schwer es die einfache Bevölkerung während des Krieges hat. Der Schwarzmarkt blüht. Auch Lene versucht auf diese Weise Medikamente für ihre kranke Mutter einzutauschen, zu der sie eine liebevolle Beziehung hat. Die Wäscherin und Alleinerzieherin kann trotz zwei Arbeitsstellen und dem Lohn von Lene kaum die kleine Mietwohnung bezahlen. Gleichzeitig zeigt sie aber durch Ferdinand von dem Hofe, dem Sohn des adeligen Arbeitgebers ihrer Mutter, der seit Kindesbeinen mit Lene befreundet ist, das Leben der wohlhabenden Adeligen auf, die sich in Clubs amüsieren und kaum Hunger leiden müssen. Doch auch Ferdinand quälen Ängste...
Silke Schütze hat sich in ihrem ersten historischen Roman vorallem dem Thema des Lehrerinnenzölibats gewidmet. Vor nur wenig mehr als 100 Jahren sind Frauen von den Entscheidungen ihrer Ehemänner oder Väter abhängig. Ihnen wurde keinerlei Recht zugesprochen. 1916 gibt es für Frauen nur zwei Möglichkeiten: Heirat, Ehe und Kinder oder alleinstehend und berufstätig. Der engstirnige und selbstgefällige Schulleiter Frambosius macht es den Lehrerinnen an seiner Schule alles andere als leicht. Für ihn sind Frauen Menschen zweiter Klasse und er ist ein typischer Vertreter seiner Generation. Lene und ihre Kolleginnen fragen sich, wer all die im Krieg gefallenen Lehrer ersetzen soll, wenn verheirate Lehrerinnen vom Schuldienst ausgeschlossen werden? Sie starten eine gemeinsame Petition an den Oberbürgermeister...
Die Charaktere sind detailiert und lebendig ausgearbeitet. Sie sind individuell, haben Ecken und Kanten. Lene ist eine selbstbewusste junge Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Sie kümmert sich liebevoll um ihre kranke Mutter und wünscht sich für die Mädchen an ihrer Schule mehr Freiheit und Schulbildung. Sie wehrt sich gegen Ungerechtigkeit. Paul ist ein netter junger Mann, der jedoch nach seiner Kriegsverletzung in schwere Depressionen fällt. Lenes Lehrerkolleginnen sind großteils patente Frauen, die ihren Beruf mit genauso großer Liebe und Hingabe ausführen, wie Lene.
Einige Wendungen sind leider etwas vorhersehbar und ein Handlungsstrang verlief gänzlich im Sand und wurde nicht beantwortet.
Dass Lehrerinnen früher nicht heiraten durften, war mir bekannt. Ich muss aber gestehen, dass ich es zeitlich viel früher angesiedelt hätte. Es ist nämlich erschreckend zu lesen, dass zum Beispiel in Deutschland erst 1950 das Lehrerinnnenzölibat gänzlich abgeschafft wurde! Da waren wir in Österreich ausnahmsweise einmal fortschrittlicher. In meinem Bundesland wurde es bereits 1923 abgeschafft, jedoch dauerte es auch bis 1949 bis in allen neun Bundesländern Lehrerinnen heiraten und unterrichten durften.
Fazit:
Eine interessante Geschichte über die Stellung der Frau vor hundert Jahren und dem Lehrerinnenzölibat. Silke Schütze hat in ihrem ersten historischen Roman ein sehr interessantes Thema aufgegriffen und ein Stück Zeitgeschichte eingefangen. Einige Handlungen waren mir zu vorhersehbar und anfangs fehlte es mir noch an der richtigen Atmosphäre zu dieser Zeit. Insgesamt aber eine liebevoller und informativer Roman, der mir schöne Lesestunden bescherte.