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Veröffentlicht am 05.11.2022

Wunderbares Buch

Das Flüstern der Feigenbäume
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Wer hat sich beim Anblick uralter Bäume nicht schon gefragt, was diese wohl bezeugen könnten? Nun darf einer von ihnen sprechen, ein weiblicher Feigenbaum, der die Lesenden und die Charaktere als alternierende ...

Wer hat sich beim Anblick uralter Bäume nicht schon gefragt, was diese wohl bezeugen könnten? Nun darf einer von ihnen sprechen, ein weiblicher Feigenbaum, der die Lesenden und die Charaktere als alternierende Erzählerin durch Elif Shafaks neuesten Roman begleitet. Ihre Wurzeln gründen tief im Hof einer zyprischen Taverne, die dem Griechen Yorgos und dem Türken Yussuf gehört. Dort haben die jungen Liebenden Defne und Kostas eine Zuflucht für ihre heimlichen Treffen gefunden, denn 1974 auf Zypern sind Beziehungen zwischen den beiden verfeindeten Nationen tabu. Als der Bürgerkrieg ausbricht, wird Kostas von seiner Mutter nach England geschickt, Defne bliebt zurück. Jahrzehnte vergehen, bis sie einander wiedersehen.
Ihre 16jährige Tochter Ada, mit deren Geschichte der Roman in der Gegenwart beginnt, hat von all dem keine Ahnung. Nie wurde in ihrem Londoner Zuhause über die zyprische Herkunft und die schwierige Vergangenheit gesprochen, die wie ein dunkler Schatten auf der Familie zu lasten scheint. Auch Kontakte zu Verwandten gibt es nicht. Adas Mutter Defne ist vor einem Jahr gestorben, ihr Vater Kostas flüchtet sich zu seinen geliebten Pflanzen, insbesondere ein Feigenbaum hat es ihm angetan. Und dann geschieht es: Als in der Schule über 'Migration und Generationen' gesprochen wird und die Lehrerin Ada über Gebühr zusetzt, bricht sich all das unsichtbar Aufgestaute, das Ada nicht in Worte fassen kann, Bahn in einem schier endlosen Schrei... Ein Mitschnitt auf Youtube löst eine weltweite Sympathie-Bewegung aus, überall stellen Jugendliche das Video unter dem Hashtag "Hörtihrmichjetzt?" nach. Ada ist zutiefst verwirrt, doch dann taucht plötzlich Tante Meryam aus Zypern auf...

Das Thema von Trauma und Verlust, von Emigration und Entwurzelung, vom Schweigen, das oft erst die dritte Generation zu brechen versteht, ist in der Literatur nicht selten zu finden. Kein Wunder angesichts der Menschheitsgeschichte, die sie spiegelt. Elif Shafak hat diese komplexe Problematik so filigran zerlegt und tief ausgeleuchtet, dass wir nach dem Lesen nicht nur wissen, sondern auch verstehen. Dabei geht es ihr weniger um die Ergründung oder gar Klärung der politischen Schuldfrage, sondern um die ganz konkreten, privaten Folgen für die Betroffenen und ihre Nachkommen. Und das ist keine leichte Kost.
Ihr Schreibstil - ins Deutsche übertragen von Michaela Grabinger - bleibt dabei dennoch federnd leicht, poetisch und immer spannend; man möchte das (Hör)buch nicht aus der Hand legen. Nebenbei habe ich viel über Botanik und die Kommunikation der Bäume gelernt, bin in Aberglaube und Mystik eingetaucht und hatte großen Appetit auf Tante Meryams üppige Gerichte.

Auch die Sprecherstimmen waren klasse. Insbesondere Eva Mattes versteht es, der Feigenbäumin Geduld, Weisheit und Warmherzigkeit zu verleihen, ohne zu viel zu interpretieren, wie es Joachim Schönfeld ab und an passiert. Er hat zwar auch den schwierigeren Rollen-Part, und ich habe ihm sehr gern zugehört. Aber gerade die 16jährige Ada, deren Verhalten und Charakter im Roman sehr reif und schlüssig ausgeformt ist, klingt im Hörbuch mitunter wie eine Zwölfjährige. Nichtsdestotrotz ein Hörgenuss!

Dies war meine erste literarische Begegnung mit Elif Shafak. Zum Glück brauche ich nur ins Regal zu greifen, um mit ihr zum "Architekten des Sultans" weiter zu reisen. Doch zuvor muss ich ganz dringend mal in den Garten huschen, um nach unserem Feigenbaum zu sehen…

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Veröffentlicht am 05.11.2022

Kunstraub- spannend und unerwartet erzählt

Waldinneres
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Spätestens seit dem spektakulären Münchner Kunstfund Gurlitt im Jahr 2012 sind die Provenienzforschung im Allgemeinen und der NS-Kunstraub im Besonderen ein für allemal im gegenwärtigen Bewusstsein angekommen. ...

Spätestens seit dem spektakulären Münchner Kunstfund Gurlitt im Jahr 2012 sind die Provenienzforschung im Allgemeinen und der NS-Kunstraub im Besonderen ein für allemal im gegenwärtigen Bewusstsein angekommen. Knapp sechs Jahre später können über 200 Gemälde und Zeichnungen der Moderne - u.a. von Dix, Nolde, Cézanne, Kandinsky oder Monet - in den beeindruckenden "Bestandsaufnahme"-Ausstellungen in Bern, Bonn und Berlin bestaunt werden, begleitet von ebenso berührenden Zeugnissen erster Forschungsresultate.

Auch die spanisch-schweizerische Autorin Mónica Subietas wirft mit ihrem Roman "Waldinneres" - Deutsch von Lisa Grüneisen - ein Licht auf den Umgang mit Flucht-und Raubkunst. Um die gleichnamige Landschaftsstudie des jungen Gustav Klimt konstruiert sie eine so spannende wie überraschende Geschichte. Diese nimmt ihren Anfang im Jahr 1942 mit Jakob Sandlers Flucht vor der Judenverfolgung. Doch das Verbrechen, das mit dem Gemälde zusammenhängt, findet erst in der Gegenwart statt. Dazwischen wachsen die Schatten dunkler Geheimnisse, wuchern vernichtende Schuldgefühle, entspinnen sich ungeahnte Beziehungen und Abhängigkeiten, Freundschaft und Verrat. Anstand und Aufrichtigkeit ringen mit Habsucht und Gier, damals wie heute. Auch wenn man irgendwann ahnt, worauf es hinausläuft - ich habe den Roman bis zur letzten Minute mit Spannung gehört. Dazu hat unbedingt Stefan Kurt beigetragen, dessen angenehme Stimme und ruhig-konzentrierte Erzählart gerade für historische Stoffe wie gemacht sind.

Auch die Schweiz als Handlungsort ist denkbar gut gewählt. Nicht nur als Drehscheibe und Markt internationalen Kunsthandels, sondern auch wegen der Rolle des neutralen Staates im Zweiten Weltkrieg, dessen Einreiseverbot für "rassisch Verfolgte" ab 1942 keine Rettung mehr bot und Fluchthelfer aus dem eigenen Land zu Hochverrätern machte.



Das gerade mal postkartengroße impressionistische Gemälde Klimts, entstanden zwischen 1881 und 1887, existiert tatsächlich. Informationen zu Besitz und Herkunft sucht man jedoch vergeblich.
Doch das spielt eigentlich auch keine Rolle. Die Geschichte hat sich so oder ähnlich tausendfach zugetragen.



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Veröffentlicht am 05.11.2022

Klug und herzzerreißend

Erstaunen
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Was für ein wundervolles, intensives, kluges Buch! Hellsichtig und zärtlich, intim und weltenumspannend, beglückend und erschütternd zugleich.
Es ist eine Weile her, dass mir eine Geschichte und die eindringliche ...

Was für ein wundervolles, intensives, kluges Buch! Hellsichtig und zärtlich, intim und weltenumspannend, beglückend und erschütternd zugleich.
Es ist eine Weile her, dass mir eine Geschichte und die eindringliche Art, wie sie erzählt wird, so unter die Haut ging. Auf jeden Fall ein Jahreshighlight und Richard Powers ein Autor, dessen andere Werke es für mich nun zu entdecken gilt.

Der Astrobiologe Theo, der beruflich nach außerirdischem Leben und damit den Beweis dafür sucht, dass das Leben auf der Erde kein Zufall war, bleibt nach dem Unfalltod seiner Frau Alyssa mit dem gemeinsamen Sohn Robin zurück. Der Neunjährige ist hochbegabt und hochsensibel und verzweifelt neben seiner Trauer mehr und mehr an seiner Umwelt, auf die er schließlich mit Gewaltausbrüchen reagiert. Als er seine Wut kaum noch unter Kontrolle hat und seine Lebenslust verliert, lässt ihn sein Vater zunächst widerstrebend an einem neuartigen experimentellen Trainingsprogramm zum emotionalen Feedback teilnehmen. Dort wird er mit heilsamen Verhaltensmustern seiner verstorbenen Mutter konfrontiert, die vor Jahren ebenfalls an dem Projekt beteiligt war und dessen Datenbank mit der Emotion "Begeisterung" speiste. Schon bald ist der Junge wie ausgewechselt, lebt sichtlich auf, zeigt Nachsicht mit all den Unwissenden und Unwilligen, entwickelt ungeahnte kognitive Fähigkeiten und "weiß" plötzlich Dinge, die nur seine Mutter wissen konnte. Zugleich stürzt er sich bis zur Selbstaufgabe in deren einstige Mission: die Rettung der Tiere.
Theo, der die Persönlichkeitsveränderung seines Sohnes mit gemischten Gefühlen verfolgt, neben der Sorge ob dessen Fanatismus' sogar Eifersucht auf Robins emotionale Nähe zu Alyssa empfindet, unterstützt seinen Junior dennoch mit Tatkraft und grenzenloser Liebe.
Schließlich geht Robins Erfolgsgeschichte viral, löst Zustimmung für das Experiment, enorme Sympathien für seine Sache und letztlich Massenproteste aus.
Da der Autor die Geschichte in einem reaktionären bigotten Amerika ansiedelt, dessen Präsidenten wir alle wiedererkennen, sind die Probleme programmiert. Die Projektmittel sowohl für Theos Suche als auch für Robins Feddbacktraining werden gestrichen. Das Unheil nimmt seinen Lauf…

Richard Powers lässt das Familiendrama chronologisch und in der Rückschau des Vaters ablaufen. Dieser tritt als rückhaltlos ehrlich reflektierender Ich-Erzähler auf, dessen Bericht leise, langsam und poetisch eine emotionale Lawine auf die Lesenden niedergehen lässt. Geschrieben in einer wunderschönen, präzisen Sprache, die unvergessliche Bilder nicht nur von unserem einzigartigen Planeten hinterlässt.

Unbedingte Lese- und auch Hörempfehlung, denn mit Joachim Schönfeld hat dieser Roman genau den richtigen Sprecher gefunden.

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Veröffentlicht am 08.10.2022

Solider Krimi, gern gelesen

Mutterherz
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Zum ersten Mal "Rizzoli & Isles" in Buchform, und das kollektive Köpfeschütteln in der Leserunde ließ nicht lange auf sich warten: Mit "Mutterherz" hätte ich lieber nicht beginnen sollen. Das sei so gar ...

Zum ersten Mal "Rizzoli & Isles" in Buchform, und das kollektive Köpfeschütteln in der Leserunde ließ nicht lange auf sich warten: Mit "Mutterherz" hätte ich lieber nicht beginnen sollen. Das sei so gar kein "typischer Gerritsen" - um Seite 200 herum wussten nämlich ausnahmslos alle, wo der Hase langläuft...
Dennoch - Das Buch aufzuschlagen war ein bisschen wie ein Treffen mit guten Bekannten. Ich war überrascht, wie schnell mir die Charaktere wieder vor Augen standen, so sehr entsprechen die Serienfiguren denen im Roman.

Die Handlung ist spannend inszeniert, der Plot auf verschiedenen Zeitebenen gekonnt verschachtelt. Eine junge Frau wird angefahren und schwer verletzt, der Täter begeht Fahrerflucht. Gegenüber von Angela Rizzoli zieht ein verdächtiges Paar ein, kurz bevor in der Nachbarschaft ein junges Mädchen verschwindet, und eine Bostoner Krankenschwester wird in ihrer Wohnung brutal ermordet. Gerichtsmedizinerin Maura Isles und Detective Jane Rizzoli haben alle Hände voll zu tun und letztere muss zudem noch ständig ihre Mutter zurückpfeifen, die sich im Fall der mysteriösen Nachbarn und des verschwundenen Teenagers ein bisschen zu sehr ins Zeug legt.
Angela Rizzoli kam ich als Lesende recht nah. Sie ist die einzige Figur, die mit längeren eigenen Passagen als Ich- Erzählerin auftritt und sich ausgesprochen gern und ehrlich mitteilt. Alles sehr sympathisch, doch vielleicht war es des Guten zu viel, denn es zieht die Spannung aus dem Thriller und alles zusammen in die Länge. Andere Figuren, wie etwa Maura Isles, kamen nach meinem Geschmack deutlich zu kurz.
Kurz nach der Hälfte ahnt man, worauf das Ganze hinausläuft, und hibbelt nun umso mehr der Auflösung und allen noch unklaren Details entgegen, darauf hoffend, dass die richtigen Leute endlich die richtigen Schlüsse ziehen.
Trotz des etwas flach geratenen Spannungsbogens habe ich diesen Fall gern gelesen. Der Schreibstil, das Setting, die Figurenzeichnung - alles stimmt. Die Schlagfertigkeit und Schlüssigkeit
der Dialoge und Gespräche habe ich sehr genossen und mich oft amüsiert.
Und am Ende wartet Tess Gerritsen dann doch noch mit einer Überraschung auf, die niemand im Blick hatte...

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Veröffentlicht am 06.09.2022

Psychologisch raffiniert

Die rätselhaften Honjin-Morde
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Japans Antwort auf Agatha Christie“, schrieb der Guardian, und das völlig zu Recht. Wer die Detektivgeschichten der Queen of Crime liebt, wird sich ebenso freuen, Bekanntschaft mit Privatermittler ...

Japans Antwort auf Agatha Christie“, schrieb der Guardian, und das völlig zu Recht. Wer die Detektivgeschichten der Queen of Crime liebt, wird sich ebenso freuen, Bekanntschaft mit Privatermittler Kosuke Kindaichi zu schließen. Zumal dies eine Langzeitbeziehung werden könnte, denn sein Schöpfer Seishi Yokomizo (1902-1981) war nicht nur ein Zeitgenosse Agatha Christies, sondern auch genauso produktiv. Allein 77 Fälle gab er seinem leicht stotternden, aber selbstbewussten Detektiv zu knacken, nun haben die @aufbau_verlage (Blumenbar) den ersten Band auf Deutsch herausgebracht, ganz wunderbar im Ton der Zeit übersetzt von Ursula Gräfe.

Zum Inhalt: Winter 1937. Im Honjin der wohlhabenden Familie Ichiyanagi werden bald die Hochzeitsglocken läuten. Der unnahbar wirkende älteste Sohn hat eine Braut gewählt, und ganz Okamura ergeht sich aufgekratzt in Klatsch und Tratsch. Doch auf das große Fest folgt noch größeres Entsetzen. In der Hochzeitnacht weckt ein Schrei die Familie, die kurz darauf das Brautpaar brutal erdolcht vorfindet. Die Tatwaffe, ein blutiges Samurai-Schwert, steckt im frisch gefallenen Schnee vor den verschlossenen Fenstern des Schlafgemachs. Dass auch dieses verschlossen und die örtliche Polizei entsprechend überfordert ist, muss vermutlich nicht erwähnt werden…
Ein klassisches locked-door-mystery also, an dem sich der Autor gleich in seinem ersten und später preisgekrönten Kriminalroman versucht. Geschickt legt er falsche Fährten, streut Zweifel, fordert zum Miträtseln heraus. Um es vorweg zu nehmen: ich lag komplett falsch und war am Ende angenehm überrascht von der psychologisch raffiniert konstruierten Handlung und ihrer absolut schlüssigen Auflösung. Nebenbei gibt es mit dem fernöstlichen Setting auch etwas über die japanische Kultur zu lernen, nicht zuletzt steuert diese auch das Gruselelement bei: Bei jedem Mord - es bleibt nicht bei den beiden Toten - hören die Zeugen den Klang einer Koto…

Der Schreibstil mit seiner gepflegten Wortwahl entspricht dem der 1940er Jahre, Ursula Gräfe hat dem ruhigen Erzählduktus behutsam in unsere Zeit geholfen, ohne ihn alt aussehen zu lassen. Überhaupt hat die Geschichte mit etwa 200 Buchseiten und viereinhalb Hörstunden genau die richtige Länge für einen unterhaltsam-verregneten Herbstnachmittag…
Den größten Teil habe ich als Audiobook genossen, was nicht zuletzt an der gemessen-geheimnisvollen Lesart von Denis Moschitto lag, der ich sehr gern gelauscht habe. Außerdem weiß ich nun, wie bestimmte japanische Wörter und Namen , z.B. Tatami oder Suzuki, richtig betont werden. Letzteres erfordert aber auch eine gewisse Konzentration, um der Geschichte mit Genuss zu folgen. Es gibt viele handelnde Personen mit (zumindest für mich) ähnlich klingenden Namen. Wer wie ich also eher der „optische Typ“ ist, der greife lieber zum Buch und seinen hoffentlich zahlreichen Folgebänden.
Leseempfehlung!

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