"Echtzeitalter" bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück
Echtzeitalter"Echtzeitalter" von Tonio Schachinger entführt die Leser:innen in die Welt des jugendlichen Protagonisten Till Kokorda, der sich zwischen einem elitären Wiener Internat und seiner Leidenschaft für das ...
"Echtzeitalter" von Tonio Schachinger entführt die Leser:innen in die Welt des jugendlichen Protagonisten Till Kokorda, der sich zwischen einem elitären Wiener Internat und seiner Leidenschaft für das Echtzeit-Strategiespiel "Age of Empires 2" wiederfindet.
AUTOR
Der österreichische Autor, der in Wien und Nicaragua aufwuchs. erlangte 2019, nach seinem Studium der Romanistik und Germanistik an der Wiener Universität und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, mit seinem Debütroman "Nicht wie ihr" literarische Anerkennung, was ihm eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis einbrachte. Mit "Echtzeitalter", seinem zweiten Roman, gewann er diesen dann 2023. In diesem Gesellschaftsroman nimmt uns Schachinger mit durch die Gymnasialzeit von Til, dessen Jugend geprägt ist von Klassikerlektüre, Freiheitslust und Gaming. Zudem erfährt man als Leser:in einiges in Bezug auf die Herausforderungen (oder Chancen?), denen Schüler:innen 2020 im Zuge der Corona-Pandemie gegenüberstanden.
INHALT
Till, der jüngste Top-10-Spieler der Welt, jongliert mit den Herausforderungen des Internatslebens und seinem digitalen Ruhm. Nach dem Tod seines Vaters wird das Gaming für ihn nicht nur zum Hobby, sondern zur Notwendigkeit. In "Echtzeitalter" werden Themen wie Rassismus, Bildungssysteme, Identität, Patriarchat, und Virtualität aufgegriffen. Der Roman verspricht einen tiefen Einblick in die Jugend zwischen Tradition und Gaming-Kultur.
MEINUNG
Mein Blick auf "Echtzeitalter" ist gespalten. Die authentische Jugendsprache, wenn auch derb, trifft den Ton und schafft Identifikationspunkte. Die Verbindung zu "Age of Empires 2" weckte bei mir persönliche Erinnerungen an meine eigene Jugendzeit, Wien als Schauplatz fand ich genial und Wien als Stadt treffend porträtiert (S. 17):
Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte. Menschen, die eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen.
Die literarische Gestaltung zeichnet sich durch Witz und treffende Beobachtungen aus, die in einem beinahe beiläufigen Ton eingefangen werden. Hier zeigt sich Schachingers Stärke in der Sprachkunst. Mein Highlight im Buch ist die Stelle mit dem "Bullshit-Bingo" (S. 166):
Sieben Schüler wetten jeweils fünf Euro auf ein Wort, und derjenige, dessen Wort der Dolinar am oftesten sagt, gewinnt. Die weniger Mutigen setzen auf Wörter, die sich gerade anbieten, wie Shakespeare oder Schularbeit, oder auf Ausdrücke, die der Dolinar einigermaßen verlässlich verwendet, wie bled oder Uh, Maria. Am besten funktioniert es aber erfahrungsgemäß mit einem Begriff, den man selbst einbringt und durch geschickte Gesprächsführung dem Dolinar möglichst oft in den Mund legt. Dabei kommt eine Technik zur Anwendung, die Fans des österreichischen Nachmittagsfernsehens vor allem aus der Barbara-Karlich-Show kennen: die Suggestivfrage.
Positiv hervorzuheben ist auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen wie Rassismus, unterschiedliche Bildungssysteme, Identität, Männlichkeit, Sexismus, soziale Klasse, Politik und Virtualität. Die literarischen Bezüge bieten zusätzliche Tiefe und haben meine persönliche Leseliste um ein paar Titel mehr erweitert.
Dennoch habe ich auch einige Kritikpunkte. Angefangen von der nicht genderneutralen Sprache, über das Fehlen eines Spannungsbogens bis hin zur emotionalen Kälte der Erzählperspektive, die mich nicht richtig warm haben werden lassen mit der Handlung und den Charakteren. Trotz des originellen Erzählstils fehlt es meiner Meinung nach auch an Struktur - alles was es an Struktur gibt sind die 8 Jahre Schulzeit, durch die wir Till begleiten. Auch die Vielzahl an Handlungsschauplätzen und Themen hat mich am Ende ratlos zurückgelassen und mir ist nicht klar, was genau die Intention des Autors am Ende war. Vielleicht hab ich aber auch nicht alles verstanden.
LIEBLINGSZITATE
Die Kunst des Nichtauffallens besteht darin, sich nicht an die eigene Individualität zu klammern und alles, was man mag oder wovon man glaubt, es sei einem wichtig, als austauschbar zu begreifen. Till ist ein Naturtalent darin. (S. 27)
Es ist, als hätte Till vor allen anderen, schon nach dem Ablegen in Southampton, ein mulmiges Gefühl gehabt, aber keine Möglichkeit mehr gefunden, die Titanic mit seinen Liebsten zu verlassen. Und jetzt, wo der Eisberg auftaucht, ist er schneller darin, die ganze Tragweite zu verstehen, steht aber nur paralysiert da. (S. 237)
Es liegt eine Freiheit darin, seine Ängste wahr werden zu sehen, denn Ängste, die wahr werden, hören auf, Ängste zu sein. (S. 289)
Februar, wenn die Erinnerung an den letzten Sommer längst verblasst ist und die Hoffnung darauf, irgendwann, im Mai vielleicht, wieder so etwas wie Wärme zu spüren, noch nicht glaub würdig erscheint. (S. 317)
Alles ist gut. Till ist glücklich. Er muss nie wieder in die Schule, nie wieder von Felis Seite weichen. Er weiß nicht, dass es keine Happy Ends gibt. Dass Menschen, die sich lieben, wie Punkte im Universum sind, so klein, dass sie eigentlich keine Fläche haben, so klein, dass man glaubt, sie wären einander nahe, obwohl zwischen ihnen Platz für unendlich viele weitere Punkte ist, zwei Punkte, die sich in Bewegung setzen, zur Linie wer- den, zu zwei Linien, wenn man hineinzoomt, zwei parallelen Linien. die sich im Verlauf der Zeit als nicht parallel erweisen, auseinander- driften, mit jeder Veränderung des Winkels oder der Geschwindigkeit, mit jeder fremden Linie, die sie kreuzen, jeder Widrigkeit und jeder Chance. (S. 326)
FAZIT
Die Vielzahl an Handlungsschauplätzen machte es mir am Ende schwer zu verstehen, was das Buch eigentlich erzählen will. Trotz der präzisen Darstellung des Schulalltags und der Gamingwelt vermisse ich eine klare Intention, die mich durch die Geschichte führt. Ich kann den Hype um den Deutschen Buchpreis leider nicht nachvollziehen und vergebe 3 von 5 Sternen.