Die Geister, die wir Familie nennen
DschinnsFatma Aydemir erzählt in "Dschinns" die Geschichte einer türkisch-deutschen Familie, die nach dem Tod des Vaters gezwungen ist, sich mit Vergangenheit, Schweigen und verdrängten Wahrheiten auseinanderzusetzen. ...
Fatma Aydemir erzählt in "Dschinns" die Geschichte einer türkisch-deutschen Familie, die nach dem Tod des Vaters gezwungen ist, sich mit Vergangenheit, Schweigen und verdrängten Wahrheiten auseinanderzusetzen. Aydemir, die in Karlsruhe geboren wurde und in Berlin lebt, gilt seit ihrem Debüt "Ellbogen" als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Mit "Dschinns" hat sie einen kraftvollen, dichten Familienroman geschrieben, der zugleich Gesellschaftsroman, Migrationsgeschichte und politisches Statement ist.
Worum geht’s?
Hüseyin hat vier Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet, um seiner Familie etwas zu hinterlassen – eine Wohnung, die zum Symbol für Opfer, Schweigen und Hoffnung wird. Doch bevor er den Schlüssel in der Hand halten kann, stirbt er. Zurück bleiben seine Frau Emine und die erwachsenen Kinder: Sevda, Peri, Hakan und Ümit. Jede Figur erzählt ein Stück ihrer eigenen Geschichte – vom patriarchalen Erbe, von Gewalt, Rassismus, Identität und vom Versuch, sich einen Platz in einer Gesellschaft zu erkämpfen, die sie nie ganz akzeptiert. In diesen Stimmen entfaltet sich ein vielstimmiges Panorama von Zugehörigkeit, Verlust und der Sehnsucht nach Selbstbestimmung.
Meine Meinung
Mich hat dieser Roman von der ersten Seite an gepackt – nicht nur wegen der Figuren, sondern auch wegen der Themen, die Aydemir schichtweise übereinanderlegt. Da ist etwa Ihsan, der in der Fabrik auf seine Herkunft reduziert wird: „Wie einen Sklaven! Wie seinen persönlichen Scheißkanaken!“ (S.143). Solche Szenen sind kaum auszuhalten, weil sie so nah an der Realität vieler migrantischer Biografien liegen. Gewalt in Beziehungen, wie bei Havva, die zwischen zwei Ländern und zwei Systemen zerrieben wird, zeigt Aydemir ebenso kompromisslos wie den Mythos um Jungfräulichkeit, der ganze Frauenleben prägt (S.171).
Besonders eindrücklich fand ich den titelgebenden Abschnitt über die Dschinns: „Dschinns sind weder gut noch böse. Sie können beides sein oder nichts davon. Wie Menschen eben.“ (S.185). Diese Ambivalenz zieht sich durchs ganze Buch – niemand ist nur Opfer oder nur Täter, niemand nur „gut“ oder „schlecht“. Genauso philosophisch tief geht es bei Peri, die über Sinn, Nihilismus und Empathie nachdenkt (S.187). Hier zeigt sich Aydemirs Stärke: gesellschaftliche Fragen werden nie abstrakt, sondern entstehen aus den Figuren heraus.
Immer wieder stößt man auf zentrale Themen wie patriarchale Rollenerwartungen (S.198, S.233), Sprache und ihre Macht, Ungleichheit und Klassismus (S.165), Rassismus im Alltag (S.252), Schweigen als Familienerbe (S.190, S.281) und die Zerrissenheit zwischen Herkunft und Zukunft (S.309). Ein Satz, der mir besonders nachging: „Weil man nur dort zuhause war, wo man jemanden hatte, der einen verstand.“ (S.275). So einfach und gleichzeitig so existenziell.
Auch die Mutterschaft ist ein starkes Motiv – Emine, die nie „aufhören“ kann, Mutter zu sein, die alles zusammenhält und daran zerbricht (S.290, S.339). Und dann Ciwan, dessen Identität als trans Person im Zentrum eines der emotionalsten Kapitel steht: das Nicht-Gesehenwerden, das Verstoßenwerden, die Suche nach Anerkennung (S.218, S.348). Hier ist Aydemir radikal und zärtlich zugleich.
Sprachlich beeindruckt mich, wie sie die Stimmen der Figuren unterscheidet – mal rau, mal poetisch, immer atmosphärisch dicht. Sie balanciert harte, brutale Szenen mit Passagen von beinahe lyrischer Schönheit, etwa wenn es um Vergebung geht: „Weil anderen zu vergeben der einzige Weg ist, dass auch dir vergeben wird. Dass du dir selbst vergeben kannst.“ (S.367).
Fazit
"Dschinns" ist ein Roman, der wehtut und gleichzeitig tröstet. Ein Buch über Herkunft, Schweigen, Gewalt, Liebe und die Frage, was Familie eigentlich bedeutet. Fatma Aydemir erzählt intensiv, vielschichtig und voller Empathie für ihre Figuren. Für mich eines dieser Bücher, die man nicht nur liest, sondern in sich trägt – lange nachdem man die letzte Seite geschlossen hat.