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Veröffentlicht am 17.08.2025

Die Geister, die wir Familie nennen

Dschinns
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Fatma Aydemir erzählt in "Dschinns" die Geschichte einer türkisch-deutschen Familie, die nach dem Tod des Vaters gezwungen ist, sich mit Vergangenheit, Schweigen und verdrängten Wahrheiten auseinanderzusetzen. ...

Fatma Aydemir erzählt in "Dschinns" die Geschichte einer türkisch-deutschen Familie, die nach dem Tod des Vaters gezwungen ist, sich mit Vergangenheit, Schweigen und verdrängten Wahrheiten auseinanderzusetzen. Aydemir, die in Karlsruhe geboren wurde und in Berlin lebt, gilt seit ihrem Debüt "Ellbogen" als eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Mit "Dschinns" hat sie einen kraftvollen, dichten Familienroman geschrieben, der zugleich Gesellschaftsroman, Migrationsgeschichte und politisches Statement ist.

Worum geht’s?

Hüseyin hat vier Jahrzehnte in Deutschland gearbeitet, um seiner Familie etwas zu hinterlassen – eine Wohnung, die zum Symbol für Opfer, Schweigen und Hoffnung wird. Doch bevor er den Schlüssel in der Hand halten kann, stirbt er. Zurück bleiben seine Frau Emine und die erwachsenen Kinder: Sevda, Peri, Hakan und Ümit. Jede Figur erzählt ein Stück ihrer eigenen Geschichte – vom patriarchalen Erbe, von Gewalt, Rassismus, Identität und vom Versuch, sich einen Platz in einer Gesellschaft zu erkämpfen, die sie nie ganz akzeptiert. In diesen Stimmen entfaltet sich ein vielstimmiges Panorama von Zugehörigkeit, Verlust und der Sehnsucht nach Selbstbestimmung.

Meine Meinung

Mich hat dieser Roman von der ersten Seite an gepackt – nicht nur wegen der Figuren, sondern auch wegen der Themen, die Aydemir schichtweise übereinanderlegt. Da ist etwa Ihsan, der in der Fabrik auf seine Herkunft reduziert wird: „Wie einen Sklaven! Wie seinen persönlichen Scheißkanaken!“ (S.143). Solche Szenen sind kaum auszuhalten, weil sie so nah an der Realität vieler migrantischer Biografien liegen. Gewalt in Beziehungen, wie bei Havva, die zwischen zwei Ländern und zwei Systemen zerrieben wird, zeigt Aydemir ebenso kompromisslos wie den Mythos um Jungfräulichkeit, der ganze Frauenleben prägt (S.171).

Besonders eindrücklich fand ich den titelgebenden Abschnitt über die Dschinns: „Dschinns sind weder gut noch böse. Sie können beides sein oder nichts davon. Wie Menschen eben.“ (S.185). Diese Ambivalenz zieht sich durchs ganze Buch – niemand ist nur Opfer oder nur Täter, niemand nur „gut“ oder „schlecht“. Genauso philosophisch tief geht es bei Peri, die über Sinn, Nihilismus und Empathie nachdenkt (S.187). Hier zeigt sich Aydemirs Stärke: gesellschaftliche Fragen werden nie abstrakt, sondern entstehen aus den Figuren heraus.

Immer wieder stößt man auf zentrale Themen wie patriarchale Rollenerwartungen (S.198, S.233), Sprache und ihre Macht, Ungleichheit und Klassismus (S.165), Rassismus im Alltag (S.252), Schweigen als Familienerbe (S.190, S.281) und die Zerrissenheit zwischen Herkunft und Zukunft (S.309). Ein Satz, der mir besonders nachging: „Weil man nur dort zuhause war, wo man jemanden hatte, der einen verstand.“ (S.275). So einfach und gleichzeitig so existenziell.

Auch die Mutterschaft ist ein starkes Motiv – Emine, die nie „aufhören“ kann, Mutter zu sein, die alles zusammenhält und daran zerbricht (S.290, S.339). Und dann Ciwan, dessen Identität als trans Person im Zentrum eines der emotionalsten Kapitel steht: das Nicht-Gesehenwerden, das Verstoßenwerden, die Suche nach Anerkennung (S.218, S.348). Hier ist Aydemir radikal und zärtlich zugleich.

Sprachlich beeindruckt mich, wie sie die Stimmen der Figuren unterscheidet – mal rau, mal poetisch, immer atmosphärisch dicht. Sie balanciert harte, brutale Szenen mit Passagen von beinahe lyrischer Schönheit, etwa wenn es um Vergebung geht: „Weil anderen zu vergeben der einzige Weg ist, dass auch dir vergeben wird. Dass du dir selbst vergeben kannst.“ (S.367).

Fazit

"Dschinns" ist ein Roman, der wehtut und gleichzeitig tröstet. Ein Buch über Herkunft, Schweigen, Gewalt, Liebe und die Frage, was Familie eigentlich bedeutet. Fatma Aydemir erzählt intensiv, vielschichtig und voller Empathie für ihre Figuren. Für mich eines dieser Bücher, die man nicht nur liest, sondern in sich trägt – lange nachdem man die letzte Seite geschlossen hat.

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Veröffentlicht am 17.08.2025

Wie wollen wir (zusammen-)leben?

Animal
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„Animal“ ist ein True-Science-Thriller, der mich von Anfang an gepackt hat – spannend, erschreckend realistisch und voller Fragen, die weit über das Buch hinausgehen. Tibor Rode, geboren in Hamburg, ist ...

„Animal“ ist ein True-Science-Thriller, der mich von Anfang an gepackt hat – spannend, erschreckend realistisch und voller Fragen, die weit über das Buch hinausgehen. Tibor Rode, geboren in Hamburg, ist bekannt für wissenschaftlich fundierte Thriller mit ethischem Tiefgang; nach "Der Wald" und "Lupus" legt er hier seinen dritten großen Thriller vor. Gesprochen wird das ungekürzte Hörbuch (15 Stunden) von Tim Gössler, dessen kraftvolle und facettenreiche Stimme die Figuren lebendig macht.

Worum geht’s?
Der junge Anwalt Ben Lorenz darf endlich seinen ersten Fall verhandeln – doch es ist ein absurder: Rosa, ein deutsches Edelschwein, klagt auf Freilassung. Eigentlich ein PR-Coup, da Tiere juristisch als Sachen gelten und der Agrarkonzern, den Ben vertritt, gar nicht verlieren kann. Doch währenddessen arbeitet ein Forscher:innenteam mit Hochdruck an einer KI, die die Sprache der Tiere entschlüsseln könnte. Was wie Science-Fiction klingt, wird brandaktuell, als Rosas Stimme plötzlich hörbar wird. Ein Wettlauf gegen Zeit, Politik und mächtige Gegner beginnt – und Ben merkt, dass er vielleicht auf der falschen Seite steht.

Meine Meinung
Schon "Lupus" hatte mich begeistert, aber Animal hat noch eins draufgesetzt. Rode schafft es, verschiedenste Handlungsstränge zu verweben: die privaten Probleme des ehrgeizigen Anwalts Ben, mafiöse Strukturen in Mastbetrieben, Geldeintreiber, die ihn bedrängen – und all das vor dem Hintergrund einer globalen Debatte über Ethik, Recht und Gerechtigkeit in Bezug auf Tiere. Besonders eindringlich fand ich die Passagen aus Rosas Perspektive. Als (quasi) Veganerin war das manchmal schwer auszuhalten, aber gerade das macht die Wucht dieses Thrillers aus: er zwingt hinzusehen.

Die Themen sind breit gefächert und hochaktuell: künstliche Intelligenz, Tierrechte, Mastbetriebe, Politik und Moral, die Frage nach Gleichberechtigung zwischen Mensch und Tier. Rode hat hervorragend recherchiert – sowohl juristisch als auch wissenschaftlich – und zeigt, was in naher Zukunft wirklich möglich sein könnte. Die Vorstellung, dass KI eines Tages Tierkommunikation entschlüsselt, wirkt nicht mehr wie Fiktion, sondern wie ein realistisches „What if“. Spannend fand ich auch die Parallelen zu Umwelt- und Klimafragen: Wie gehen wir mit Natur, Technik und Macht um?

Das Hörbuch selbst ist eine absolute Empfehlung: Tim Gössler differenziert die Figuren so gut, dass man sofort weiß, wer spricht, und erträgt die Spannung mit einer Intensität, die kaum Pausen zulässt. Ich habe jede Minute bis zum Schluss mitgefiebert. Dass Rodes Thriller nicht nur ein Justizdrama ist, sondern auch ein Polit- und Wissenschaftsthriller, macht ihn so besonders. Er erinnert an Autoren wie Frank Schätzing oder Marc Elsberg, bleibt aber klar in seiner eigenen Stimme.

Ein kleiner Kritikpunkt bleibt: Trotz 15 Stunden Hörzeit war es irgendwann vorbei – und ich hätte gut und gerne noch weiter zuhören können.

Fazit
"Animal" ist ein packender, kluger und hochaktueller Thriller, der Unterhaltung mit Nachdenklichkeit verbindet. Er konfrontiert mit Fragen, die uns in den nächsten Jahren real beschäftigen könnten – und macht das auf eine Weise, die fesselnd und schmerzhaft zugleich ist. Wer spannende Pageturner mit Tiefgang liebt, sollte hier unbedingt zugreifen. Danke an netgalley.de & den Argon Hörbuchverlag für das kostenlose Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 17.08.2025

Ein Sommer voller Eistee & Brüche

Himmel ohne Ende
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Ein Sommer, ein Mädchen, ein Schmerz, der größer ist als sie selbst – "Himmel ohne Ende" erzählt vom Erwachsenwerden, von Verlust und der Suche nach einem Platz in der Welt. Julia Engelmann, die mit ihrem ...

Ein Sommer, ein Mädchen, ein Schmerz, der größer ist als sie selbst – "Himmel ohne Ende" erzählt vom Erwachsenwerden, von Verlust und der Suche nach einem Platz in der Welt. Julia Engelmann, die mit ihrem Poetry-Slam-Text Eines Tages, Baby Millionen begeisterte und seitdem als Sängerin, Schauspielerin und Autorin erfolgreich ist, legt hier ihren ersten Roman vor.

Worum geht’s?
Charlie ist fünfzehn, ihr Vater hat die Familie verlassen, die Mutter ist neu liiert, und die beste Freundin hat sich in denselben Jungen verliebt wie sie selbst. Charlie fühlt sich, als läge eine Glasscheibe zwischen ihr und der Welt. Dann trifft sie Kornelius, genannt Pommes, der ihr zeigt, dass man die Scheibe manchmal herunterkurbeln kann – und vielleicht doch wieder an den Himmel herankommt.

Meine Meinung
Schon auf den ersten Seiten spürt man: Engelmann bleibt ihrem poetischen Ton treu. Charlie beschreibt ihre Welt mit einer Mischung aus Melancholie, Wut und Witz: „Wie geht’s dir denn in letzter Zeit? Ich dachte daran, dass Eistee aufgehört hatte, gut zu schmecken und Licht aufgehört hatte, hell zu sein.“ (S. 12). Diese Sprache ist nah an der Gefühlswelt von Jugendlichen – manchmal repetitiv, aber gerade darin authentisch.

Besonders berührt hat mich, wie klar Engelmann den Schmerz über den Vaterverlust zeichnet: „Er hatte ein Loch hinterlassen, ein Loch in der Form meines Vaters, und ich, ich hatte durch das Loch in den Abgrund geschaut.“ (S. 19). Charlies Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach einem „richtigen“ Leben, zieht sich durch den ganzen Roman. Szenen in der Schule, Freundschaften voller Loyalität und Verrat, das erste Verliebtsein – all das ist hier da, aber eben nicht glattgebügelt, sondern voller Brüche.

Pommes ist dabei eine besondere Figur: lebensfroh und doch schwer belastet durch die Krankheit seiner Mutter. In seinen Gesprächen mit Charlie finden beide einen Ort, an dem Verletzlichkeit erlaubt ist. Es sind Sätze wie „Was, wenn es schiefgeht? – Was, wenn es gutgeht?“ (S. 199), die die Kraft des Buches ausmachen: schlicht und trotzdem tief.

Neben Coming-of-Age-Motiven erzählt Engelmann von Familie im Wandel: Patchwork, Trennungen, Erwartungen und dem Gefühl, manchmal unsichtbar zu sein. Besonders eindringlich fand ich Charlies Erkenntnis: „Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass ihr Glück etwas sein könnte, in dem ich nicht vorkam.“ (S. 69). Dazu kommen leise Beobachtungen über Musik, Sprache, Körperbilder, den Wunsch nach Mut und Selbstbestimmung – Themen, die nicht nur Jugendliche bewegen.

Ja, manches ist pathetisch, manches sehr typisch „Engelmann“, doch die Mischung aus Alltagsbeobachtung und poetischen Höhenflügen funktioniert. Am Ende bleibt das Gefühl, dass man Charlies Reise nicht so schnell vergisst.

Fazit
"Himmel ohne Ende" ist ein sensibles, poetisches Coming-of-Age über Verlust, erste Liebe und die Suche nach dem eigenen Leben. Es ist melancholisch und gleichzeitig hoffnungsvoll, manchmal schwer, manchmal leicht – so wie das Erwachsenwerden selbst. Danke an netgalley.de & den Diogenes Verlag für das kostenlose Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 17.08.2025

Elefantenparabel über unsere Gegenwart

Das Geschenk
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Elefanten in Berlin – klingt absurd, ist aber die Ausgangssituation von "Das Geschenk", einem brillanten Politthriller von Gaea Schoeters. Die flämische Autorin, bekannt durch "Trophäe", schreibt als Journalistin, ...

Elefanten in Berlin – klingt absurd, ist aber die Ausgangssituation von "Das Geschenk", einem brillanten Politthriller von Gaea Schoeters. Die flämische Autorin, bekannt durch "Trophäe", schreibt als Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin, wurde mit dem Jan-Wauters-Preis für Sprachkunst ausgezeichnet und überzeugt mit einem Blick für das Globale im Kleinen.

Worum geht’s?
Deutschland verbietet die Einfuhr von Jagdtrophäen – und prompt „schenkt“ der Präsident Botswanas dem Land 20.000 Elefanten. Ein scharfes „Was wäre wenn“-Szenario entfaltet sich: Politiker:innen, Medien und Bürger:innen müssen plötzlich mit einer Krise umgehen, die alles infrage stellt – von Tier- und Klimaschutz über Migration bis hin zu nationaler Identität.

Meine Meinung
Schon "Trophäe" hatte mir gefallen, aber dieses Buch hat mich noch mehr gepackt. Schoeters verknüpft Natur und Politik, Humor und Bitterkeit, Satire und Tragik zu einer Parabel über Macht, Postkolonialismus und die Absurditäten unserer Zeit. Der Bundeskanzler taumelt zwischen Witzen, Elefantendung und Gesetzesdebatten, während Botswanas Präsident trocken feststellt: „Ihr Europäer wollt uns vorschreiben, wie wir zu leben haben. Vielleicht solltet ihr einfach mal selbst versuchen, mit Megafauna zurechtzukommen.“ (S. 35).

Besonders beeindruckt hat mich, wie viele Ebenen Schoeters einbaut: Die Elefanten werden Symbol für Geflüchtete („Elefanten sind keine Flüchtlinge.“ S. 64), für Klimakrise, für koloniale Ungleichgewichte. Gleichzeitig bleibt es absurd komisch, wenn über „Gratis-Biomüll-Verwertung“ (S. 38) oder eine Elefanten-Liebesgeschichte im TV debattiert wird. Auch bei ernsten Themen wie „Glass-Cliff“-Mechanismen für Politikerinnen (S. 68) oder rechten Parolen („Afrikanisierung Europas!“ S. 97) zeigt sie messerscharf, wie eng Rassismus, Sexismus und Machtspiele verflochten sind.

Die Szenen sind oft grotesk, aber immer nah an unserer Realität: Bürger:innen, die „Scheiße schaufeln“ (S. 53), ein Elefantenbaby, das zur nationalen Ikone wird, nur um wenig später Opfer eines Unfalls zu werden (S. 84). Fragen wie „Welches Leben ist mehr wert?“ (S. 84) oder die Erkenntnis, dass „ein Bundeskanzler kein Recht auf Träume“ hat (S. 131), hallen nach. Klimakrise, Migration, Populismus – alles spiegelt sich in dieser „Geschenk“-Parabel. Und immer wieder blitzt Humor auf, der das Ganze erträglich, manchmal sogar leichtfüßig macht.

Fazit
"Das Geschenk" ist politisch, packend und tief satirisch – ein Roman, der uns zwingt, über Verantwortung, Gerechtigkeit und Zukunft nachzudenken. Schoeters gelingt die seltene Mischung aus bitterem Ernst und scharfem Witz. Wer sich auf diesen literarischen Spiegel einlässt, wird lachen, schlucken – und nicht mehr wegsehen können.

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Veröffentlicht am 17.08.2025

Vom Zerbrechen und Zusammenhalten

Eden
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Mit „Eden“ erzählt Jan Costin Wagner eine zutiefst bewegende Geschichte über eine Familie, die nach einem traumatischen Anschlag mit dem Verlust ihres Kindes und dem Auseinanderbrechen der Welt, wie sie ...

Mit „Eden“ erzählt Jan Costin Wagner eine zutiefst bewegende Geschichte über eine Familie, die nach einem traumatischen Anschlag mit dem Verlust ihres Kindes und dem Auseinanderbrechen der Welt, wie sie sie kannten, konfrontiert wird. Wagner, bekannt durch seine Kimmo-Joentaa-Reihe, ist vielfach ausgezeichneter Krimiautor und wagt sich hier an ein politisch wie emotional sensibles Thema. Für mich war dieses Buch Teil der #NetGalleyDEChallenge2025 – danke an NetGalley und Galiani Berlin für das Rezensionsexemplar!

Worum geht's?
Markus, Kerstin und ihre Tochter Sofie führen ein liebevolles, eng verbundenes Familienleben. Ein Geschenk – Konzertkarten für Sofies Lieblingssängerin – wird für Markus zum Auslöser unvorstellbaren Schmerzes, denn auf dem Konzert kommt es zu einem Terroranschlag. Sofie stirbt. Zurück bleiben die Eltern, die auf sehr unterschiedliche Weise versuchen, mit ihrer Trauer, dem Trauma und der Leere umzugehen. Während Kerstin sich zunehmend verliert, ringt Markus um Halt und Menschlichkeit. Er beschließt, das Gespräch zu suchen – mit sich selbst, mit anderen und schließlich sogar mit der Familie des Attentäters. Parallel dazu zeigt der Roman, wie politisch aufgeladene Themen wie Hass, Ideologie, Verschwörungserzählungen oder gesellschaftliche Spaltung subtil in den Alltag einsickern.

Meine Meinung
Mich hat das Buch tief berührt – auch wenn das Cover auf mich eher unscheinbar wirkte, war ich vom Klappentext sofort angezogen. Die Geschichte ist schwer, emotional und intensiv – ich habe sie während meines Urlaubs innerhalb kürzester Zeit verschlungen. Wagners Sprache ist zurückhaltend, fast leise, aber gerade dadurch sehr wirkungsvoll. Viele Passagen haben mich innehalten lassen. Besonders gelungen fand ich die multiperspektivische Erzählweise, die verschiedene Blickwinkel auf Trauer, Schuld, Sprachlosigkeit und gesellschaftliche Verantwortung ermöglicht.

Die Trauerphasen werden spürbar: Markus‘ Versuch, rational zu bleiben, Kerstins Rückzug, das Unverständnis im Umfeld. Ich konnte nicht alle Reaktionen nachvollziehen – vielleicht gerade deshalb, weil ich glücklicherweise nie Ähnliches erlebt habe. Umso mehr habe ich die stille Wucht dieses Romans gespürt.

Ein besonders kraftvolles Zitat: „Es ist gut, dass die Liebe da ist, auch wenn sie das einzige Problem ist. Der Hass kann die Liebe nicht beseitigen, er kann sie nur in Trauer und in bittere, schöne Erinnerungen verwandeln und damit zum schärfsten Schwert machen, das es gibt.“ (S. 77)

Wagner gelingt es, menschliche Abgründe mit viel Feingefühl darzustellen. Auch die Kritik am politischen Umgang mit persönlichen Schicksalen kommt durch – allerdings bleiben viele dieser gesellschaftspolitischen Aspekte nur angerissen. Themen wie AfD, Coronaleugner:innen, Rassismus und Verschwörungserzählungen tauchen auf, aber nie tief genug, um wirklich einen nachhaltigen Diskurs zu eröffnen. Das hätte ich mir pointierter gewünscht.

Die Frage nach der Motivation des Täters ist heikel. In der Figur Ayoub wird versucht, die Radikalisierung zu erklären. Dennoch bleibt für mich die Frage offen: Musste der Täter in Eden zwingend muslimisch sein, wenn das Thema ohnehin nicht differenziert vertieft werden kann?

Fazit
„Eden“ ist ein Roman, der unter die Haut geht. Sprachlich feinfühlig und emotional präzise zeigt Jan Costin Wagner, was Verlust mit uns macht – als Individuen und als Gesellschaft. Die politischen Nebenstränge bleiben etwas blass, aber das Kernmotiv der Empathie und des Nicht-Aufgebens hat mich stark bewegt. Von mir gibt es eine Leseempfehlung!

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