Nicht nur kurz grandios: Sprachgewaltig, berührend & heftig
"Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden - ich wollte freikommen."
"Auf Erden sind wir kurz grandios" von Ocean Vuong ist der ...
"Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden - ich wollte freikommen."
"Auf Erden sind wir kurz grandios" von Ocean Vuong ist der Brief eines Sohnes an seine vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird, denn sie ist Analphabetin. Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Ihr Sohn ist ein schmächtiger Außenseiter, der Little Dog genannt wird.
In Rückblenden erfahren wir von seiner Kindheit, der Ankunft in den USA, den Knochenjobs seiner Mutter, ihren prügelnden und geschundenen Händen, der Krankheit seiner Großmutter und seiner ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen.
Die nicht verarbeiteten Kriegstraumata seiner Mutter versetzen sie mit jedem Feuerwerk, jedem Spielzeugsoldaten, wieder in den Krieg zurück.
"Wann endet ein Krieg? Wann kann ich deinen Namen sagen und nur deinen Namen meinen und nicht das, was du hinter dir gelassen hast?"
"Unsere Muttersprache ist so überhaupt keine Mutter - sondern eine Waise. Unser Vietnamesisch eine Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg."
Die Sprache von Ocean Vuong ist poetisch und heftig zugleich, oft schwer zu ertragen, aber unfassbar gut.
"Ja, es gab einen Krieg. Ja, wir kamen aus seinem Auge. In diesem Krieg schenkte sich eine Frau einen neuen Namen - Lan -, erklärte sich durch diese Namensgebung selbst für schön und erschuf aus der Schönheit etwas, das seiner Bewahrung wert war. Daraus wurde eine Tochter geboren und von der Tochter einen Sohn.
Diese ganze Zeit über habe ich mir gesagt, dass wir aus dem Krieg geboren wurden - aber ich habe mich geirrt, Ma. Wir wurden aus Schönheit geboren.
Niemand soll glauben, wir seien die Frucht der Gewalt - sondern dass Gewalt, die durch die Frucht hindurch gegangen ist, sie nicht verderben konnte."
Es ist unklar, ob dieses Buch autobiographisch geprägt ist, es liest sich jedoch sehr authentisch und ist unfassbar berührend.
"Ich weiß nicht, was ich rede. Was ich meine, ist wohl, dass ich manchmal nicht weiß, was oder wer wir sind. Es gibt Tage, an denen ich mich wie ein menschliches Wesen fühle, an anderen fühle ich mich mehr wie ein Klang. Ich berühre die Welt nicht als ich selbst, sondern als Echo dessen, der ich gewesen bin. Kannst du mich schon hören? Kannst du mich lesen?"
"Ma, ich weiß nicht, ob du es in diesem Brief soweit geschafft hast - oder ob du es überhaupt hierher geschafft hast. Du sagst mir immer, es sei zu spät für Dich, lesen zu lernen, mit deiner armen Leber, deinen müden Knochen, dass du dich nach allem, was du durchgemacht hast, nur noch ausruhen willst. Dieses Lesen ist ein Privileg, das du mir durch das, was du verloren hast, ermöglicht hast. Ich weiß, dass du an Wiedergeburt glaubst. Ich weiß nicht, ob ich daran glaube, aber ich hoffe, dass es sie gibt. Weil du dann vielleicht beim nächsten Mal hierher zurückkehren kannst. Vielleicht wirst du ein Mädchen sein und vielleicht wird dein Name wieder Rose sein, und du wirst ein Zimmer voller Bücher haben und Eltern, die dir in einem von Krieg unberührten Land Gutenachtgeschichten vorlesen. Vielleicht wirst du dann, in jenem Leben und in dieser Zukunft, dieses Buch finden und wissen, was uns geschah. Und du wirst dich an mich erinnern. Vielleicht."
Ein wirklich überwältigendes, grandioses Buch.
Sprachgewaltig, poetisch und heftig.
Ein Roman, der noch lange in mir nachhallen wird.