Mit Bevor die Nacht geht führt Patrycja Spychalski den Leser auf einem gelungenen kleinen Road Trip durch die Straßen von Berlin und bringt dabei vor allem die Vielseitigkeit der Hauptstadt besonders gut zur Geltung. Innerhalb Berlins ist kein Kiez wie der andere und man kann völlig verschiedene Welten erkunden. Aus diesem Grund macht es so viel Spaß Jacob und Kim auf ihrer Tour zu begleiten.
Wer selbst aus Berlin kommt, hat seine Freude daran, weil man einerseits manchmal genau weiß, wo die beiden gerade sind und die Gegend vielleicht sogar konkret vor Augen hat, andererseits durch das Buch allerdings auch nach Jahren in der Großstadt noch neue Orte kennenlernen kann, von denen man noch nie etwas gehört hat und die einem somit bisher verborgen geblieben sind.
Wer nicht aus der Region ist, wird jedoch bestimmt ebenfalls Gefallen an der Geschichte finden, da Berlin einfach eine wunderbare Stadt ist, in der es unglaublich viel zu entdecken gibt. Die Autorin schafft es den besonderen Flair Berlins in etlichen Facetten zu zeigen und spätestens nach der Lektüre wird man die Stadt einmal selbst auskundschaften wollen und dabei sicher der einen oder anderen Empfehlung der Heldin folgen.
Kim ist eine sehr ungewöhnliche Hauptfigur mit zum Teil ziemlich schrägen Eigenheiten, doch genau das macht ihren besonderen Charme aus. Sie ist kein unsicheres Mauerblümchen, sondern erfrischend selbstbewusst und direkt. Ihre Energie, die Lebensfreude, die sie sich trotz ihrer schwierigen Lebensumstände erfolgreich bewahrt hat, und ihre Liebe zu Berlin sind regelrecht ansteckend, was auch Jacob schnell feststellt.
Stattdessen übernimmt eher der sympathische, fürsorgliche Protagonist den schüchternen Part und es macht ihn sehr liebenswert, dass er Kim so anziehend findet und ihr gern näher kommen würde, sich anfangs aber noch nicht traut Körperkontakt herzustellen oder sie gar zu küssen, immerhin sind sie sich gerade erst begegnet. Erfreulich ist außerdem, dass Kim ihn dazu veranlasst sich gegenüber seiner Familie mehr durchzusetzen, schließlich ist er alt genug um eigene Entscheidungen zu treffen und insgesamt alles andere als rücksichtslos.
Es ist schön zu beobachten, wie sie sich im Verlauf ihres Ausflugs näher kommen und sich besser kennenlernen, zumal sie sich gegenseitig ergänzen und darum wirklich gut zusammen passen. Von dem Umstand, dass sie spontan den gesamten Tag miteinander verbringen, einmal abgesehen, ist das nicht einmal unrealistisch, denn in Stunden gemessen verbringen sie so viel Zeit miteinander, wie andere auf einzelne Treffen verteilt über mehrere Tage oder Wochen. Infolgedessen ist es nicht unglaubwürdig, dass sie sich schon bald so zueinander hingezogen fühlen. Sie sind vielleicht noch nicht richtig ineinander verliebt, jedoch auf dem besten Weg dorthin.
Obwohl sich ihnen wohl nur eine einzige Gelegenheit bietet, haben sie ihre Leidenschaft außerdem soweit unter Kontrolle, dass sie mangels eines Verhütungsmittels kein Risiko eingehen und es nicht zum Äußersten kommen lassen. Damit sind sie ein gutes Vorbild für jugendliche Leser, ohne auffällig mit dem Finger darauf zu zeigen oder belehrend zu wirken.
Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus den Perspektiven von Kim und Jacob, wodurch man sich in beide Figuren gut hineinversetzen kann und stets weiß, was die beiden denken oder empfinden, insbesondere was sie von dem jeweils anderen tatsächlich halten. Dazu findet man am Anfang eines jeden Kapitels eine Ort- sowie Zeitangabe, sodass man ihre Route nachverfolgen kann und später merkt, wie wenig Zeit ihnen gemeinsam noch bleibt ehe sie sich trennen müssen.
Der Schreibstil von Patrycja Spychalski ist nicht überzogen jugendlich, sondern authentisch und lässt sich dadurch sehr angenehm und flüssig lesen. Mit dem Berliner Dialekt übertreibt sie es ebenso wenig.
Die eigentliche Handlung hat, wie viele Road Trips, kaum Spannung zu bieten, da die Geschichte allein von der Tour durch die Stadt lebt und ansonsten nicht allzu viel passiert, kann dafür allerdings mit anderen Qualitäten punkten. Am Schluss ist man genauso traurig wie die Charaktere, dass die Nacht nun bereits vorüber ist und die Sonne ihren unweigerlichen Abschied mit sich bringt, sodass man vielleicht sogar ein Tränchen verdrücken muss. Dank Kim freut sich Jacob aber wenigstens auf die Rückkehr nach Berlin, während er die Stadt zuvor gar nicht schnell genug verlassen konnte.
Das Ende ist sehr offen gehalten und es gibt leider keinen Ausblick auf die Geschehnisse nach Jacobs Jahr im Ausland, doch man kann die Geschichte zumindest für sich selbst weiterspinnen. In einem Jahr kann viel passieren, aber wer optimistisch ist, glaubt natürlich daran, dass die beiden sich wiedersehen.