Der renommierte Historiker Raffael Scheck erzählt in diesem Sachbuch eindrucksvoll von den Monaten Mai und Juni 1940 als Hitlers Truppen Richtung Westen marschieren und dabei auf die Spuren ihrer Väter und Großväter treffen. In Belgien, genauer gesagt in Flandern, stehen sich abermals Franzosen und Deutsche unversöhnlich auf den Schlachtfeldern des „Großen Krieges“, wie man den Ersten Weltkrieg damals nannte, gegenüber.
Dabei bedient sich der Autor sich zahlreicher, bislang unveröffentlichten Berichten, Briefen und Tagebucheinträgen von Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten der Front(en). Diese höchst ungewöhnliche Sicht der Ereignisse vermitteln uns Lesern einen besonderen Eindruck. Es sind die Wochen, die den „Sitzkrieg“ oder „Drôle de guerre“ (komischer Krieg), wie die Franzosen diese eigenartige Pattstellung nennen, beenden.
Man deckt sich gegenseitig mit Propaganda ein. Deutsche Lautsprecher geben vor, französische Radiosender zu sein und Flugblätter werden massenhaft abgeworfen.
„Die Lüge ist dynamisch und hat mehr Flügel als die unbewegliche Wahrheit.“ (Emile Collart).
Auf der einen Seite steht die hoch gerüstete Wehrmacht und auf der anderen die schlecht ausgerüsteten Armeen Frankreichs und Großbritanniens.
Anhand dieser Dokumente können wir nachvollziehen, wie die Traumata des Ersten Weltkriegs und die Trauer um gefallenen Großväter, Väter, Brüder sowie anderer Verwandten aus dem Bewusstsein bzw. Unterbewusstsein ans Tageslicht drängen. Diese Erinnerungen und das eigene Leid sind kaum zu bewältigen. Den dort lebenden Zivilisten ergeht es nicht anders. Bei ihnen kommen noch die damals von Deutschen verübten Massaker an Frauen, Kindern und Alten dazu.
Meine Meinung:
Autor Raffael Scheck ist Historiker und versucht mit diesem akribisch recherchierten Sachbuch die nationalstaatliche und europäische Sicht auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts aufzubrechen. Dabei bleibt der Autor sachlich, wissenschaftlich.
Aus militärischer Sicht her ist der Feldzug von 1940 gut erforscht. Doch anders als in den meisten militärhistorischen Büchern kommen hier auch die Zivilisten zu Wort. Zahlreiche Texte aus Briefen und Tagebücher werden zitiert.
Gleich zu Beginn ist eine Karte des Westfeldzuges abgebildet. Zahlreiche Fotos ergänzen den Text.
Raffael Scheck gliedert sein Buch wie folgt in sieben Kapitel:
Prolog
Einleitung: der unnötige Krieg?
Kriegsausbruch und Sitzkrieg
„Jetzt hat der Krieg wohl wirklich angefangen“ Der Angriff und die Reaktionen
Die große Schlacht in Flandern
Le Désastre
Nach dem Waffenstillstand
Ein Namensverzeichnis der Zeitzeugen sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis vervollständigen das Sachbuch.
Die Szenen der Schlachten sind detailliert, jedoch ohne Sensationshascherei geschildert, Kriegsverbrechen auf beiden Seiten ebenso. Das unbestätigte Gerücht, die Soldaten der Alliierten würden (verbotene) Dum-Dum-Geschoße verwenden, lässt die deutschen Soldaten besonders grausam gegen Gefangene der gegnerischen Armee vorgehen. Besonders die Senegal-Schützen der französischen Armee werden von der Wehrmacht misshandelt und ermordet.
Dass nicht alle Soldaten verroht und gegen das Leid der Menschen immun sind, zeigen einige Briefe der Männer an ihre Frauen, in denen sie die Bombenangriffe gegen Flüchtlingstrecks beschreiben. Eine der großen Schwierigkeiten dieses Feldzuges ist es, dass sich Flüchtlingskolonnen sich mit den Soldaten kreuzen und sich gegenseitig behindern, da unglaubliche Menschenmassen auf den ohnehin schlechten Straßen unterwegs sind.
Da schreibt z.B. ein deutscher Soldat an seine Eltern:
„Furchtbar das Elend der Bevölkerung. [...] Manchmal muss ich mir den Hass auf die Franzosen aufzwingen, weil das Volk selbst gar nicht so den den Krieg gewollt hat.“
Interessant ist auch, dass die flämische Bevölkerung Belgiens von Franzosen und Briten oft fälschlicherweise für Deutsche gehalten wird und zahlreiche Flamen als Spione erschossen worden sind. Dabei wurden sie von den Wallonen, den französisch sprechenden Belgiern unterstützt. Dieser ethnische Konflikt Flamen gegen Wallonen dauert bis heute an.
Fazit:
Diesem Sachbuch über die Erlebnisse von Soldaten verschiedener Armeen, die sich im Frühjahr 1940 auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs abermals gegenüber stehen gebe ich 5 Sterne und eine Leseempfehlung, weil es nicht nur deren Sicht sondern auch jene der Zivilbevölkerung beschreibt.