Das Feld der Kleinstadtgerechtigkeit
In der ruhigen Kleinstadt North Bath leben allerlei skurrile Personen, eine davon ist Donald Sullivan, von allen nur Sully genannt. Wenn er nicht gerade einer Gelegenheitsarbeit nachgeht, die im allgemeinen ...
In der ruhigen Kleinstadt North Bath leben allerlei skurrile Personen, eine davon ist Donald Sullivan, von allen nur Sully genannt. Wenn er nicht gerade einer Gelegenheitsarbeit nachgeht, die im allgemeinen schwarz bezahlt wird, findet man ihn bei Hatties, während er seinen Kaffee trinkt, oder in der letzten Kneipe der Stadt an der Theke. Verantwortung ist ihm fremd, Glück ebenso und Pech sein zweiter Vorname. Als die Ehe seines Sohnes Peter zerbricht und dieser mit seinem Sohn Will bei Sullys Ex-Frau Vera Unterschlupf findet, nähern Vater und Sohn sich allmählich an.
Richard Russo hat mit dem vorliegenden Buch ein Bild von einem Amerika jenseits des Glamours gezeichnet. Eine heruntergekommene Kleinstadt, seit Jahrzehnten im Sterben begriffen, dazu ein Potpourri an Einwohnern jedes Alters und jeder Schicht, Freundschaften, Feindschaften und jede Menge spleeniger Charaktere ergeben mit der Suche nach dem großen Glück, dem manch einer der Bewohner nachjagt, eine Geschichte, die mich über 777 Seiten lang wunderbar unterhalten hat und doch kann ich nicht genug davon bekommen. Da ist Rub, der beste Freund von Sully und nicht die hellste Kerze auf der Torte, gelinde gesagt, der aber unermüdlich an dessen Seite steht und jede Arbeit verrichtet, die Sully besorgt, zufrieden damit, seinem Kumpel zu gefallen. Oder Carl, ein wohlhabender Bauunternehmer, der die miesesten Arbeiten an Sully delegiert, dessen Not er ausnutzt, der verheiratet ist mit der schönsten Frau der Stadt und trotzdem seinen Willi nicht im Hosenstall lassen kann. Der einbeinige Anwalt, starker Alkoholiker und kaum in der Lage, einen Rechtsstreit zu gewinnen, könnte das Bild abrunden, wenn es nicht noch viele andere Figuren gäbe, die ähnlich extravagant bis originell wären, allen voran Sully, der tragische Held. Sully hat viele gute Eigenschaften, aber zeigen kann er sie meistens nicht. Dennoch hat er, genauso wie die meisten Einwohner von North Bath, das Herz auf dem richtigen Fleck, denn wenn es darauf ankommt, kommt er zur Hilfe, allerdings nur, wenn er es vorher nicht vergisst.
Der großartige Schreibstil und das immense Talent von Richard Russo, der ein meisterhafter Geschichtenerzähler ist, machen das Buch zu einem Lesevergnügen der besonderen Art. Auf keiner einzigen Seite des Buches kam Langeweile auf, nie habe ich das Gefühl, eine Kürzung hätte der Story gutgetan. Im Gegenteil könnte ich weitere hundert Seiten lesen und bekäme trotzdem nicht genug. Mit einem feinen Humor und mit genügend Ironie gespickt, hält Russo der Gesellschaft einen Spiegel vor und lässt seine Figuren in Situationen schlittern, die alltäglich sind. Die Situationskomik lässt mich immer wieder auflachen, sogar wenn die Umstände eher tragisch, als lustig sind. Die Verzweiflung ist oft spürbar, wechselt sich ab mit Hoffnung und der Sehnsucht nach Glück. Am Ende bin ich traurig, dass die Reise zu Ende ist, aber auch glücklich, dass ich dabei sein durfte, und ganz besonders, dass es weitergeht mit North Bath und seinen Bewohnern, denn mit dem Folgewerk „Ein Mann der Tat“ geht es für mich dahin zurück. Ich kann es kaum erwarten und freue mich!