Vor acht oder in einhundert Jahren
Greta lebt in den Bergen, fährt ab und zu in die Stadt, und sie träumt den Steinen, den Tieren, den Menschen Gedichte zu. Zarte Wortgebilde, die ich mir auf der Zunge zerschmelzen lasse. Greta ist von ...
Greta lebt in den Bergen, fährt ab und zu in die Stadt, und sie träumt den Steinen, den Tieren, den Menschen Gedichte zu. Zarte Wortgebilde, die ich mir auf der Zunge zerschmelzen lasse. Greta ist von einigen Menschen und Wesen umgeben, die ihr wichtig sind... Jannis, Tante Severine, die Kinder, Cornelio. Ein Märchen auf 222 Seiten. Und immerzu: Vor acht Jahren...
Jeder Satz, vom Anfang an, liest sich wie ein Gedicht... ein unendliches Gedicht... Die bunten Federhüte, der Schnee, der auf Lippen schmilzt, und immer wieder - das Gebirge, im Gebirge, auf der Gebirgsstraße... Reisende im Zug, im Bus, und dann der Hof, Tante Severine, die Mädchen. Es braucht einige Zeit zu verstehen, aber gelingt das Verstehen?
Jannis und Greta, eine Liebesgeschichte? Es bleibt auf jeden Fall mysteriös. Innere Monologe, Dialoge mit Unbekannten, Gedankenfetzen, viel indirekte Rede (was schwieriger zu lesen ist, Konzentration ist angesagt, das ist kein Überfliegerbuch). Mysteriös. Bizarr. Wie vor acht oder in einhundert Jahren… das Mysteriöse des Schreibstils von Sarah Kuratle wandert auch in meine Rezension: Ich übernehme ihren Stil.
„Im kleinen Warteraum des Bahnhofs zählt ihm eine einsam tickende Wanduhr die Zeit im Stillen vor. Durch an ihren Rändern glanzvoll beschlagenen Fenster sieht er die Frau draußen zuerst Stirn gegen Sturm, dann wieder in die andere Richtung gepeitscht, wird sie sogar langsamer. Sie ist sehr schmal und blass, wie in den Mantel gefallen, kam sie ihm vor als sie seine Hand und seinen Arm hielt. Sie trägt keine Mütze am Kopf, warum lässt sie ihren grauen Schal flattern, ihre Haare wild in der Luft.„
Peng, das hat Wucht! Jedes Wort wie auf die Goldwaage gelegt. Worte, die mir auf der Zunge liegen wie ein Stück Schokolade und die ich langsam lutsche und vergehen lasse, bis sich mir der volle Geschmack im Mund entwickelt, bis sich mir der ganze Sinn öffnet.
Ich empfehle: Langsam lesen, wie ein Gedichtsband, dann die Worte vom Auge zum Ohr und weiter zum Gehirn, Buchstabe für Buchstabe, schmelzen lassen. Den Namen der Autorin, Sarah Kuratle, muss ich mir merken, da wird noch einiges kommen…
Ein wunderschön zarter Einband, der mit seinen roten Hartriegelbeeren und – blätter auffällig ist.
Sarah Kuratle, Greta und Jannis, Vor acht oder in einhundert Jahren, Otto Müller Verlag