Ein Buch, eine Frage, "Bin das (alles) ich?", eine Antwort: "Ja, und noch viel mehr." Saša Stanišić nimmt uns mit auf eine Reise zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zu den Orten, Menschen und Ereignissen, die geprägt und gelenkt haben. "Write what you know" - Stanišić nutzt seine eigene Biografie als roten Faden seiner Überlegungen, auf verschiedenen Ebenen. Zum einen sind da die äußeren, geographisch-politisch bedingten Faktoren: Die "Vielvölker"geschichte seiner Familie, der Zusammenbruch des Geburtslands, die eigenen Migrationserfahrungen. Zum anderen die innere Reise, die Suche nach dem Ich, erzählt nicht nur anhand der Suche verschiedener Menschen zu ihrer Zugehörigkeit, sondern vor allem mittels der Großmutter und ihr Abgleiten in die Demenz.
Das Ganze vermengt sich zu einem einerseits sehr intimen-persönlichen Memoir. Gleichzeitig hält es Deutschland den Spiegel vor, und erschreckenderweise ist es fast gleich, ob es das im Jahr 1992 oder 2019 tut. Migration, Integration, Fremdenhass, Vorurteile - die Themen werden nicht weniger, nur (noch) lauter. Und die Gedanken, die sich dieser jugendliche Flüchtling vor mehr als 25 Jahren gemacht hat, sind auch heute noch gültig und wichtig.
Das klingt alles sehr nüchtern und politisch, tatsächlich ist Herkunft aber ein sehr warmes, liebevolles Buch. Respekt, Liebe, Verständnis, Sehnsucht, Verbundenheit - das sind Begriffe, die mir beim Lesen durch den Kopf geisterten. Und die kleinen Beobachtungen, die mir am besten gefallen haben, und bei denen Stanišić so schön formuliert, dass auch mir ganz warm ums Herz wurde. Erzählt wird nicht linear, sondern sehr fragmentarisch, in kleinen Geschichten, die zeitlich hin- und herspringen. Das macht einen Großteil des Charms aus - dennoch hätte ich hier und dort gerne noch etwas länger verharrt, anstatt direkt weiter zu springen und mich wieder neu zu sortieren.
Ein Wort noch zum Format: "Hör das Hörbuch", habe ich so oft zu hören (ha!) bekommen, "der Saša liest so sympathisch." Ja, hätte ich gerne, aber das Hörbuch gibt's nur gekürzt - für mich ein No-Go. Also habe ich doch zum ebook gegriffen. Und siehe da: Das Sympathische kommt auch geschrieben sehr gut rüber, und im letzten Fünftel des Buches wurde auch deutlich, warum dieser Teil für das Hörbuch gekürzt werden musste: Denn da erwartet die Leserschaft ein ziemlich üppiges "Choose your own adventure". Also genau das Format, das der Autor selbst beschreibt, als er von seiner Jugend berichtet (Stichwort "Das schwarze Auge" und so). Auch ich habe mit 11, 12 ein paar dieser Bücher gelesen/gespielt und mich entsprechend sehr über dieses Gimmick gefreut. Augenscheinlich geht es um ein Abenteuer von Saša und seiner Oma Kristina, die den Opa suchen und Drachen jagen gehen. Ein bisschen Flucht aus dem Altenheim, ein bisschen Höhlen erkunden, ein bisschen Rapier zücken - und dann scheint immer wieder mal die Realität durch: der schließliche Tod der Oma, die Trauerzeit und letztlich die Beerdigung. Ich weiß nicht, inwieweit diese finalen "Realpassagen" im Hörbuch überhaupt erwähnt bzw. beachtet wurden (falls nicht, Proftipp: Diese finalen Seiten dem Hörbuch als pdf zugeben). Gerade die Beschreibung der Beerdigung waren für mich ein sehr "stimmiger" Abschluss.
Ob liebevolle Familienerinnerung oder intime Migrationsgeschichte - ein lesenswertes Buch, das auf vielen Ebenen wirkt.