Familie ODER Beruf. Beides geht nicht.
„Verheiratete Lehrerinnen gehören nicht in die Schule. Lehrerin und Ehefrau, das sind beides Berufe, die die ganze Person fordern. In solch einem Fall wird aus geteilter Kraft halbe Kraft, und keiner Stelle ist damit gedient. Weder dem Heim, noch dem Bildungsinstitut.“
Lene Lehmann aus Berlin/Schöneberg darf im Jahre 1916 als Vertretungslehrerin in einer Volksschule unterrichten und dadurch ihren größten Traum wahr machen. Als Kind einer liebevollen alleinerziehenden Mutter, die sich und ihre Tochter als hart arbeitende Putzfrau über die Runden bringt, stellte es ein unglaubliches Privileg für sie dar, durch die Großzügigkeit eines adeligen Arbeitgebers ihrer Mutter Bildung erfahren zu dürfen. Lenes fleißiges Streben führte letztendlich zum Ziel, und durch den Heiratsantrag von Paul Kruse scheint ihr Glück vollkommen. Lene träumt von einem gemeinsamen Leben mit ihrem Verlobten nach dem Krieg. Doch der Frontsoldat Paul wird verwundet und scheint nach seiner Rückkehr ein völlig anderer Mann zu sein. Darüber hinaus bereitet Lene der geltende Lehrerinnen-Zölibat Kummer, der verheirateten Frauen eine Tätigkeit als Lehrerin verbietet. Sie kann sich ein Leben ohne zu unterrichten nicht vorstellen und wird sich zwangsläufig für ihre Karriere, oder aber für die Ehe mit Paul entscheiden müssen. Doch die schlagfertige, selbstbewusste und intelligente junge Frau möchte ihr Schicksal gerne selbst in die Hand nehmen. Sie begehrt auf und engagiert sich im Kampf gegen den Lehrerinnen-Zölibat und um Gleichberechtigung. In einer Petition wendet sie sich gemeinsam mit ihren Kolleginnen an das Schulministerium in Potsdam und an den Schöneberger Magistrat und sorgt hierbei für einigen Aufruhr…
Silke Schütze hat in ihrem Roman ein sehr aussagekräftiges Bild vom Leben im Berlin des Jahres 1916 gezeichnet. Sie beschreibt die Lebensumstände der ärmeren Bevölkerungsschicht, die Lebensmittelknappheit und die Rationierungen aufgrund des Krieges sowie die überlebensnotwendigen Aktivitäten auf dem Schwarzmarkt. Durch ihre Protagonistin Lene Lehmann und deren Kolleginnen macht die Autorin auf das damals herrschende Lehrerinnenzölibat aufmerksam und berichtet vom Kampf um das Wahlrecht für Frauen sowie der Forderung nach Gleichberechtigung. Durch die Person des kriegsversehrten Schuldirektors Dr. Julius Frambosius wird die allgemein geltende Ansicht, eine Frau gehöre an den Herd, sehr deutlich dargelegt. Der Begriff der „Heimatfront“ spielt eine nicht unbedeutende Rolle im Buch, wo Frauen in Ermangelung der männlichen Arbeitskräfte deren Aufgabenbereiche übernehmen mussten – zwar mit gleichem Einsatz, jedoch mit weit geringerem Lohn. Eine Fortführung dieser Gleichberechtigung nach Kriegsende war jedoch nicht geplant. Die Frauenbewegung ist Thema dieses Buches und die langsame Veränderung der Gesellschaftsordnung zeichnete sich bereits ab.
Silke Schütze besitzt einen sehr einnehmenden Schreibstil und schaffte es, mich mit ihren liebevoll gezeichneten Figuren sowie den authentisch dargestellten Lebensumständen ans Buch zu fesseln. Die Liebe zwischen Lene und Paul sorgte für eine Prise Romantik, und durch den reichen adeligen Jurastudenten Ferdinand von dem Hofe wurde der starke Kontrast zwischen Arm und Reich auch während des Krieges sehr deutlich spürbar. Informationen zur Entstehung der Sommerzeit im Jahre 1916 sowie die vehemente Streichung aller französischen Wörter aus der Sprache wurden als interessante historische Fakten in diese Geschichte eingebaut.
Fazit: „Wir nannten es Freiheit“ war ein Buch, dem es gelang, mich durch die eindringlichen und überzeugenden Ausführungen von Silke Schütze vollständig ins Jahr 1916 nach Berlin zu versetzen. „Eine kleine Großstadtblume träumt vom großen Sonnenschein“ ist Pauls Krauses Slogan in diesem Buch – und durch den Einsatz mutiger Menschen werden Träume manchmal Wirklichkeit.
Ein fesselndes und sehr schönes Leseerlebnis, das ich gerne weiterempfehle.