„Normal zu sein ist überbewertet“
Farbenfrohe Sommerlektüre mit einer ordentlichen Portion Tiefgang und durch und durch sympathischen Hauptfiguren mit Ecken und Kanten – für alle, die „reif für die Insel sind“. Knapp 500 Buchseiten lang ...
Farbenfrohe Sommerlektüre mit einer ordentlichen Portion Tiefgang und durch und durch sympathischen Hauptfiguren mit Ecken und Kanten – für alle, die „reif für die Insel sind“. Knapp 500 Buchseiten lang Auszeit vom Alltag als Erholungspause für Herz und Verstand.
Schon wie er in der Hand liegt, der aktuelle Roman von Simone Veenstra, lässt das Herz hüpfen: der Schutzumschlag von „Unverblümt im Sommerwind“ ist haptisch für ein Taschenbuch durchaus anspruchsvoll gestaltet, denn die fröhlichen gelben Blumen auf dem Cover sind glatte Farbkleckse auf dem warmen, leicht rauen Karton, der beinahe ein Gefühl von Leineneinband vermittelt. Das ist sehr stimmig vor dem Hintergrund, dass der Inhalt sich intensiv mit der Wirkung von Farben und auch Formen auf die Sinne in der Malerei (und im Alltag) beschäftigt. Erst einmal ein dickes Lob, dass sich ein großer Verlag wie Heyne auf so eine ausgefeilte Gestaltung eingelassen hat – für mich hat es zum Lesevergnügen beigetragen, dieses sinnliche Papier Tag für Tag in Händen zu halten. Im Innenteil der Umschlagklappe finden sich dann vorne und hinten noch jeweils liebevoll gezeichnete Karten von Amrum und Föhr, anhand derer sich die Wege auf den gar nicht mal so riesigen Inseln für all jene nachvollziehen lassen, die noch nie dort waren.
Zum Inhalt: Das Buch hat den sehr passenden Untertitel (Buchrückseite) „Lügen für Anfänger“, denn die Hauptfigur, Kunsthistorikerin Judith, kann einfach nicht lügen. Dadurch eckt sie immer wieder an, beruflich wie in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen. Ständig und überall muss sie hinausposaunen, was sie wirklich denkt, statt Zuflucht in diplomatischen Floskeln oder gesellschaftlich akzeptablen Notlügen zu suchen. Das ist für ihr Umfeld nicht besonders leicht, was ihr bewusst ist, aber das Problem ist: sie kann einfach nicht anders. Auch wenn der Begriff im Buch nie fällt: Judith erinnert an einen Menschen mit einer leichten Form von Asperger.
Ich gestehe, dass ich mich seeeehr gut mit ihr identifizieren konnte, denn ich gehöre auch zu einem Menschenschlag, der einfach immer viel zu direkt ist und beim Aussprechen unangenehmer Wahrheiten oder aufgrund irgendwie als unpassend empfundener Bemerkungen schon des Öfteren angeeckt ist. Und ja, auch mich hat diese Neigung zur Direktheit wie sie schon den einen oder anderen Job gekostet (ganz ohne Asperger). Sooo true ... Das ist nicht schön, aber rückblickend denke ich persönlich: Well, wenn ich mich derart verbiegen muss, um diesem Kunden oder jener Chefin zu gefallen, dann pass ich da wirklich nicht rein, dann muss ich eben das Umfeld finden, in dem ich mit meiner Art willkommen bin. Klar kann man an sich arbeiten und man lernt ja auch stetig dazu – aber verbiegen, das schlägt auf die Dauer einfach auf den Magen. Und mal ganz ehrlich: wer will sich schon sein Leben lang verbiegen, wo soll das hinführen?
Aber bleiben wir mal bei Judith: Bei ihr war es zuletzt der Job in einem Bekleidungsgeschäft: weil sie einfach nicht anders konnte als der Kundin zu sagen, dass ihr die Hose, mit der diese liebäugelte, wirklich nicht besonders gut stand. Oder die Assistent:innenstelle an der Uni, die ihr ihr besserwisserischer Exfreund Paul vor der Nase weggeschnappt hatte. War allerdings auch ein ziemlich blöder Move von seiner Seite. Und zu allem Überfluss ist sie auch noch aus ihrer WG geflogen, weil sie ohne Job die Miete nicht mehr zahlen konnte, so dass sie jetzt einfach nicht mehr weiter weiß und schon gar nicht, wohin. So sucht sie Unterschlupf bei ihrem Onkel Olaf auf der Insel Amrum, der sich einen alten Leuchtturm zu einer gemütlichen Wohnung ausgebaut hat. Dort läuft ihr gleich ein recht verfilzter, frauchenloser Hund zu, den sie erst einmal „Hund“ nennt. Das erscheint mir mehr als logisch, denn die Persönlichkeit eines Tiers zeigt sich ja nicht beim ersten Zusammentreffen, sondern erst nach und nach. (Ich bekenne, dass im Impfausweis meiner Katze Diva als Name „Katze“ steht, weil ich exakt vor diesem Problem auch stand. Meine Mitbewohner:innen zum Zeitpunkt des Zulaufens hatten sie derweil „Psychokatze“ getauft, weil sie bei unserer Begegnung so ausgehungert war, dass sie sehr aggressiv wurde, wenn man ihr ihr zustehende – so ihre Auffassung – Leberwurstbrote vorenthielt, das ist jetzt aber wieder eine andere Geschichte ...)
Ungefähr zeitgleich trifft Judith durch Zufall auf eine Gruppe von Leuten, die sich im Lauf der Erzählung als wahre Freunde entpuppen – und darauf pfeifen, ob die unverblümten Wahrheiten, die ihr immer wieder herausrutschen, schmeichelhaft sind oder nicht. Denn in solchen Wahrheiten liegen immer wieder auch Hinweise zur Selbsterkenntnis für Menschen, die offen dafür sind. Und das sind die Bewohnerinnen der „Villa Pippilotta“, einer kunterbunt angestrichenen alten Villa in Strandnähe, die von der experimentierfreudigen Köchin Maren betrieben wird.
Da ist Ben, ursprünglich Kriegsberichterstatter, nach einer schweren Beinverletzung erst einmal auf den Rollstuhl angewiesen und darüber ziemlich verbittert, dann gibt es den Teenager Lydia, deren Gesicht nach einem Unfall zum Teil durch schwere Brandnarben entstellt ist, einen älteren Herrn namens Josef, der vor Kurzem seine Frau verloren hat und sich mit ihr unterhält, als wäre sie noch da, und Rita, die von ihrer Zwillingsschwester getrennt wurde und nur schwer mit dieser Trennung klarkommt, weil die Schwestern eine geradezu symbiotische Beziehung miteinander hatten und stets wie eine Person gefühlt und gehandelt haben.
Maren, Hausmutter und guter Geist der Villa Pippilotta, betreibt das Haus als Rückzugsort für Menschen, die nach verschiedenen Schicksalsschlägen das Inselrefugium (genau wie Judith) nutzen, um wieder zu sich selbst zu finden. Das Haus hat Maren von ihrer Mutter geerbt, ihre Großmutter Teda war als Künstlerin tätig und hat die Villa als Ort für Gestalt- bzw. Kunsttherapien auf Amrum etabliert. Das interessiert Judith als Kunsthistorikerin natürlich brennend. Als sie das Atelier der Großmutter auf dem Dachboden in Augenschein nimmt, fällt ihr Tedas Tagebuch in die Hände.
So erklärt sich auch der zweite Handlungsstrang des Romans, der in der Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg bis in die 1920er-Jahre hinein spielt. In diesem wird die Geschichte von Teda erzählt, Marens Großmutter. Teda stammte von Föhr, der Nachbarinsel von Amrum, und studierte in den „wilden 20ern“ als Mann verkleidet (!) unter der Identität ihres im Krieg gefallenen Bruders in Berlin Kunst. Denn zu diesem Zeitpunkt waren Frauen noch nicht offiziell zum Kunststudium zugelassen. Die historische Parallelhandlung entfaltet sich nach und nach, während Judith Tedas Tagebuch liest. Der kurze Ausschnitt aus Tedas Leben, der über die Tagebucheinträge transportiert wird, bietet über die Perspektive Tedas einen höchst intensiven Einblick in eine Zeit voller Umbrüche: zum einen in die politischen Veränderungen, das Erstarken der nationalsozialistischen Kräfte, aber auch den Widerstand gegen das nationalistische Geschwätz und gegen unintelligente Würstchen, die sich in der Gruppe stark fühlen.
Es vermittelt aber auch das Gefühl für eine Aufbruchsstimmung unter Frauen, die sich mit der Emanzipationsbewegung rund um die Einführung des Frauenwahlrechts 1919 trauten, in vielen Bereichen mehr Verantwortung und Macht einzufordern. Teda gehört noch zu der Generation, die sich ihren Wunsch nach einer qualifizierten künstlerischen Ausbildung nicht als Frau gleichberechtigt erfüllen kann, also geht sie einen anderen, nicht ganz legalen Weg. Es ist verblüffend, wie leichtfüßig es Autorin Simone Veenstra gelingt, derart mächtige Themen wie nebenbei in die Handlung einfließen zu lassen, ohne dass auch nur der Ansatz eines erhobenen Zeigefingers durchscheint. Im Gegenteil: die Handlung um Teda, die sich ihr Studium durch allabendliches LIve-Porträtzeichnen in einem Kabarett finanziert, hat mich geradezu eingesogen, so dass ich mir mehrfach gewünscht habe, trotz des nicht gerade schmalen Umfangs von „Unverblümt im Sommerwind“, ich könnte noch mehr über Tedas ziemlich schillerndes Leben erfahren. Es wird derart spannend geschildert, dass die Autorin ein eigenes Buch (wenn nicht gar ein mehrteiliges historisches Werk) daraus hätte bauen können, ohne dass es auch nur eine Sekunde gelangweilt hätte.
Neben den Einblicken in Tedas schillernde Kabarettwelt der Weimarer Zeit, die Künstlerinnen und Künstler, Schwule und Lesben, aufstrebende Filmsternchen, engagierte Kämpferinnen gegen Armut und Hunger und prügelsüchtige Nazis mit leichter Hand skizziert, alles in der Halbwelt der Amüsierviertel von Berlin angesiedelt, die aus Romanen der Zeit und Geschichtsbüchern so verlockend von den Seiten winkt, gibt es natürlich auch die eine oder andere Liebesgeschichte. Tedas Enkeltochter Maren muss ja irgendwie in die Welt gelangen. Und auch zwischen Judith und Ben scheint es zu funken – ob da was geht zwischen diesen beiden schwierigen und vom Leben verletzten Charakteren? Findet es selbst heraus!
Mein Fazit: der Roman hat mich zu Tränen gerührt zurückgelassen, begeistert über die wunderbare Figurenzeichnung, die spannende Handlung, die ganz ohne Thrillerelemente trotzdem den Charakter eines Pageturners entfaltet, und absolut süchtig nach mehr – nach mehr Geschichten von Hund, Teda und Judith! 500 Seiten finde ich lange nicht genug. Das schafft „Unverblümt im Sommerwind“ übrigens – trotz des etwas kitschigen Titels – ganz ohne in Kitsch oder Schmalz abzudriften. Für mich schon jetzt die Sommerlektüre des Jahres 2020.