Eine Frau wird in London ermordet. Der Täter wird ihre Augen in geöffnetem Zustand fixieren und ihren Mund verschließen. Er wird ihre Haare färben und sie verändern – so dass sie so aussieht wie schon zwei andere tote Frauen in London vor ihr. Der Spitzname des Täters ist „Lover“. Natürlich beginne ich als Leser mitzufiebern und mitzurätseln, aber würde das in der Realität ausreichen? Eine kleine Gruppe auf einer True-Crime-Website glaubt, die Tat aufklären zu können. Doch ist ihr Mitglied Clementine wirklich die Richtige für diese Aufgabe? Oder ist sie, die Psychologie-Studentin mit den Panikattacken und den vielen Sicherheitsvorkehrungen an ihrer Tür nicht eher der Täterseite zuzuordnen? Und dann ist da Dominic „Dom“ Bell von der zuständigen Polizei. Er muss sich nicht nur Sorgen um die Gegenwart machen und um einen Täter, zu dem es keine Spuren zu geben scheint, sondern auch um seine Zukunft: sein letzter Einsatz lief gehörig daneben. Hat er einen Maulwurf unter seinen Kollegen?
Fans von Thrillern und Krimis haben sich bestimmt schon das gleiche gefragt wie die Mitglieder der kleinen Gruppe hier um den mysteriösen „Death Stalker“, darin liegt ein großer Reiz des Plots. Doch hat „Death Stalker“, der viel von den anderen Mitgliedern verlangt und wenig selbst preisgibt, vielleicht eigene Interessen? Und woher kommen die eindeutigen Insider-Informationen der anderen? Dazu spielt jemand der Presse Polizei-Interna zu. Einmal kein „beschädigter Ermittler“, dafür mit Dom Bell ein Polizist, dem die interne Ermittlung im Nacken sitzt und der damit umgehen muss, den ihm Nahestehenden nicht mehr vertrauen zu können. Man darf also auch hier rätseln, was vorgefallen ist. Clementine wirkt dafür umsomehr wie dem Klischee entsprechend, doch es bleiben Fragen offen. Wenn man so möchte, darf man hier also (mindestens!) drei Rätsel lösen, oder sind alle Verbrechen?
“My little Eye” so der Originaltitel mit einer ziemlich nichtssagenden deutschen Übersetzung hat sich für mich als Pageturner erwiesen. Die Brutalität des Täters ist zwar groß, die Darstellung durch Autorin Stephanie Marland ist jedoch sachlich, eher an der Gerichtsmedizin und den Spuren orientiert, mit wenig „Splatter“-Neigung. Für Empfindliche: es wird sexuelle Gewalt nach der Tötung festgestellt, jedoch NICHT beschrieben. Die Spannung bleibt durchgängig hoch wegen der Parallelität der Taten des Lovers und der größeren privaten und beruflichen Probleme der ungleichen Ermittler. Dabei wahrt der Tonfall immer wieder einen gewissen trockenen Humor, so wenn Ermittler Bell ins Büro seines Chefs muss, farblich gehalten in „Twelve-Shades-of-Klärschlamm“ S. 134 Das führt jedcoch zu keiner Verharmlosung, so zu sehen in der Reaktion des Ermitlers kurz vor Betreten des Tatorts: „Wenn man so viele Jahre dabei ist, kommt jedes Mal eine Flut von Erinnerungen an Tatorte hoch: so viele Leichen. Als ob das Gehirn schon mal zu erraten versucht, was einen erwartet. Oder einen als Desensibilisierungsmaßnahme mit alten Bildern überschwemmt, bevor man das neue zu Gesicht bekommt. Was auch immer, es klappt nie. Kann es gar nicht. Keine Leiche ist jemals ein guter Anblick.“ S. 44
Eine Empfehlung: originelle Ermittlerkonstellation, spannender Fall mit Neben-Handlung, sowie ein Schluss, der eine Fortsetzung möglich macht (oh ja, bitte!). 5 Sterne.