"Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können"
Der erste Band der Glückstöchter-Trilogie erzählt die Geschichte von zwei Frauen. Da ist einmal Eva, die 1976 in München Pharmazie studiert. Sie ist das, was man in der Parfümwelt eine „Nase“ nennt, extrem ...
Der erste Band der Glückstöchter-Trilogie erzählt die Geschichte von zwei Frauen. Da ist einmal Eva, die 1976 in München Pharmazie studiert. Sie ist das, was man in der Parfümwelt eine „Nase“ nennt, extrem sensibel und erinnerungsfähig für alle Arten von Gerüchen. Sie hat quasi eine eigene Duftbibliothek im Kopf. Als die junge Frau eine Entdeckung macht, die ihre Welt erschüttert, zieht sie von zuhause aus und stürzt sich, manchmal etwas kopflos, ins Schwabinger Studentenleben. Sie zieht in eine Wohngemeinschaft und lernt neue Leute kennen. Sie ist mittendrin in dieser Umbruchstimmung mit freier Liebe, Haschisch und Demos gegen Atomkraft, und sie macht erste Erfahrungen mit Lebensmitteln aus biologischem Anbau.
Die zweite Geschichte handelt von Anna, die 1910 zusammen mit ihrem Vater, einem bekannten Botaniker, auf Gut Dreisonnenquell in Wessobrunn lebt. Sie ist sehr naturverbunden und unterstützt die Arbeit ihres Vaters nach Kräften, denn sie möchte eines Tages in seine Fußstapfen treten und die Pflanzenzucht übernehmen. Aber das Schicksal will es anders, und Anna muss sich neu orientieren. Nach einiger Zeit, die sie in München verbringt, reist sie zum Monte Veritá in die Schweiz, um dort ihre angeschlagene Gesundheit zu kurieren. Dabei erfährt sie nicht nur die erste Liebe, sondern schließt sich der Reformbewegung an.
Zwischen den beiden Geschichten liegen mehr als sechzig Jahre, aber die zwei Frauen, um die es in der Hauptsache geht, haben viele Gemeinsamkeiten. Zum einen erleben beide eine herbe Enttäuschung und müssen mit veränderten Situationen klar kommen, außerdem sind beide sehr naturverbunden und sensibel, was die Umwelt angeht. Die Autorin hat in beiden Handlungssträngen den Zeitgeist sehr gut und lebendig eingefangen. Auch die Persönlichkeiten, die man im Buch kennenlernt, sind ihrer Zeit gemäß charakterisiert. Was Anna und Eva erleben, ist durchaus glaubhaft, wenn auch für mein Empfinden viel zu viel ungesagt bleibt. Beide Frauen fühlen sich getäuscht, weil es hinter ihrem Rücken zu viele Geheimnisse gab. Da kann ich ihre negativen Gefühle sehr gut nachvollziehen, denn ich selbst bin ein Mensch, der mit derartiger Heimlichtuerei, wie beide sie erfahren haben, auch nicht gut klar kommt.
Obwohl mir Eva und ihre Zeit eigentlich näher ist und ich damals ungefähr im gleichen Alter wie sie war, hat mir Annas Geschichte noch ein klein wenig besser gefallen. Hier fand ich es besonders interessant, etwas über die Menschen und das Leben auf dem Monte Veritá zu erfahren. Erstaunlich ist, dass schon damals, im Zeitalter der fortschreitenden Industrialisierung, ein starker, reformerischer Geist und eine Entwicklung zum gesunden Leben vorhanden waren. Ebenso geht es mir mit den Siebziger Jahren, als bereits viele Menschen gegen Atomkraft demonstrierten und nicht ernst genommen wurden, und heute, mehr als fünfzig Jahre später, ist die Menschheit weit davon entfernt, die Probleme mit Umwelt, Energie und Atommüll im Griff zu haben. Auch der Rückblick in Sachen Naturkost gefällt mir sehr, denn ich kann mich noch sehr gut an die ersten kleinen Bioläden erinnern, wo ich schon damals gerne einkaufte.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen, und was die fortlaufende Handlung angeht, hat es mich nicht nur gut unterhalten, sondern mir auch ein paar Erinnerungen beschert und viele neue Informationen über die Zeit vermittelt, als meine Großeltern lebten. So gesehen fand ich diese Zeitreise ungeheuer spannend. Dass ich diesem Buch nur vier Sterne gebe, liegt am Ende. Es klärt sich eigentlich nichts! Alle Fragen bleiben offen, viele Szenen enden abrupt und werden nicht geklärt, sondern die Handlungsstränge sollen vermutlich erst im zweiten Band weitergesponnen werden. Da dieser aber erst im Januar 2024 erscheint, ist die Zeit, bis man erfährt, wie alles weitergeht, schon enorm lang. Gerade jetzt war ich neugierig darauf, wie es mit Anna und Eva weitergeht. Als Vielleserin werde ich vermutlich bis zum Erscheinen des zweiten Buches rund fünfzig andere Bücher lesen, und dann geht es mir oft so, dass die Luft raus ist und ich nur schwer wieder in so eine offene Geschichte hineinfinde. Ich lese zwar gerne Mehrteiler und Reihen, aber dabei erwarte ich, dass die einzelnen Bände nicht so in der Luft hängen, sondern dass sich wenigstens ein paar Fragen klären, aber hier bleibt selbst der Cliffhanger aus dem Prolog offen, was mich schon ein wenig enttäuscht hat. Nun beginnt also eine lange Durststrecke und Wartezeit, bis wir erfahren, wie sich Annas und Evas Leben weiterhin entwickelt.