Realität auf einer höheren Ebene der Wahrnehmung oder: Als der Scharlachrote König Derry auf der Karte entdeckte
Zusammenfassung
Ralphs Frau stirbt. Er bekommt keinen Schlaf mehr. Er sieht Auren und kleine Männchen. Sein Freund und Nachbar wird augenscheinlich verrückt, verprügelt seine Frau, verbreitet Verschwörungstheorien ...
Zusammenfassung
Ralphs Frau stirbt. Er bekommt keinen Schlaf mehr. Er sieht Auren und kleine Männchen. Sein Freund und Nachbar wird augenscheinlich verrückt, verprügelt seine Frau, verbreitet Verschwörungstheorien und droht ihm. Ein anderer Verrückter sticht ihn nieder. Als ob das nicht genug wäre, bekommt er von den kleinen Männchen die Aufgabe, einen Versammlung von Abtreibungsbefürwortern abzusagen, auf die ein Anschlag geplant ist... Was Ralph letztlich trotz der überwältigenden Müdigkeit zu heldenhaften Taten und in die Schusslinie von unvorstellbaren Mächten treibt, ist nicht der mögliche Tod von hunderten Derry-ites, sondern der von Menschen, die ihm viel näher stehen.
Vor dem Hintergrund des Lebens, Liebens und Leidens der Bewohner der Harris Avenue entfaltet sich eine Heldengeschichte verpackt in einen Fantasyroman, umhäkelt mit einer Liebesgeschichte und bestäubt mit dem wohlbekannten Horror.
Meine Meinung
Was wäre, wenn... es die Auren, von denen esoterisch angehauchte Menschen immer sprechen, wirklich gäbe - was würde man sehen? Und ganz nebenbei: glaubst du an Schicksal – und wenn ja, wie spielt freier Wille da mit hinein?
Ich habe dieses Buch schon mehrfach gelesen und mich des Öfteren gefragt, wie King die Idee zu diesem etwas verrückten Roman gefunden hat. Dass die Auren eine Art Lebenslinie anzeigen, generell aus purer Energie bestehen und regenbogenfarbenbunt sind und je nach Gesundheits- und Gemütszustand der betreffenden Person die Farbe oder Dichte ändern... das klingt an sich furchtbar esoterisch- aber hey, das ist eine Story von einem Autor, der sich schon abstrusere Dinge ausgedacht hat.
Aus welchem Brunnen die Idee für diese besondere Geschichte auch stammen mag – King versteht es wieder meisterhaft, den Leser in eine Welt zu entführen, in der jeder Charakter glaubwürdig und nachvollziehbar ausgefeilt seine Entscheidungen trifft. Der Charme, mit dem die ältere Generation Derrys (das man als altgedienter King-Leser kennt und hass-liebt) quatscht, keift, diskutiert, lacht, weint, stirbt, spielt, den Sinn des Lebens nach der Rente sucht, muss seinesgleichen erst finden. Gänzlich aus der Sicht des Protagonisten geschrieben führt "Schlaflos" durch menschliche Wirrungen, alltägliche Sorgen, weltliche Grausamkeiten, und nicht zuletzt durch eine Welt, die sich hinter der sichtbaren versteckt und sowohl wunderschön als aus furchterregend ist. Zudem schafft Monsieur King es, das Thema Plan, Zufall und freien Willen in die Geschichte einzubauen, ohne dass man sich fühlt als habe man ein pseudophilosophisches Selbsthilfebuch in der Hand.
Ich bin von Dialogen begeistert, aus denen wahres Verständnis für verschiedenste Persönlichkeiten und menschliche Gefühlsregungen spricht (oder sehr sehr gute Beobachtungsgabe); von der Vielzahl der mitmischenden Personen, die jeder für sich greifbar, sehr eigen und wenngleich überaus normal doch alle sehr besonders sind; von den Bildern, die die Worte in mir hervorrufen und die Buchstaben auf dem Papier zum Erlebnis werden lassen, das mich je-des-mal wieder zu dicken Tränen rührt. (Ich gebe zu, der letzte Abschnitt passt auf mehrere Bücher meines Lieblingsautors, aber deswegen ist es nicht weniger wahr.)
Mit überraschenden Szenen sowie subtilen und plakativen Hinweisen schürt King das Feuer unter dem Topf mit der Spannung. Ereignisse, die zunächst keine Verbindung zueinander aufweisen, verflechten sich nach und nach miteinander, um wie Feuerwerkskörper nacheinander in unterschiedlicher Intensität und Farbenpracht zu explodieren.
Dass King sich eines Bildes bedient, das in der Fantasy-Leser-Welt berühmt ist - "One Ring To Bind Them All" - und das entsprechende Werk auch als Referenz angibt, ist eine besondere Hommage. Manche rufen vielleicht "Geklaut!", doch ich rufe Hut ab! für eine elegante Art, den Protagonisten dem Leser noch näher zu bringen. Und manche Räder können wirklich nicht neu erfunden werden - und dann, sage ich, darf man sich gerne eines alten bedienen, wenn man so deutlich macht, dass man selbst nicht der Erfinder ist.
Das Cover weist mit Neonpfeil nach "ES" und dem Ur-Bösen, was meiner Meinung nach mit "Schlaflos" wenig mehr als das Setting gemeinsam hat. Falls hier die Ballonschnur ein Hinweis sein soll, ist er sehr subtil. Einzig das Schwarz passt - wobei ich ein Bild von einer Stadt in einem schwarzen Leichentuch besser fände, aber keinen Schimmer habe, wie das optisch ansprechend darzustellen wäre.
Fazit
"Schlaflos" ist nicht nur ein weiteres Derry-Kapitel, es ist Teil des King-Multiversums, in dem auch die Dunkle-Turm-Saga ihren Platz hat – das Buch funktioniert aber auch für sich. Liebhaber von Kings Werken kommen (nicht nur, aber besonders wegen der Referenzen auf andere Bücher, die wie immer nahtlos in die Geschichte passen) ebenso auf ihre Kosten wie Leser, die Fantasy-Thriller-Horror Crossovers mit Helden lieben, die so echt wirken, als wären sie aus dem Leben ausgeschnitten und in das Buch eingeklebt worden.