Düstere, eindrückliche Geschichte
Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt ...
Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt und rigiden Regeln ihrer Zeit ins tiefste Unglück gestürzt wird.
Das beginnt noch recht harmlos, wir bekommen von Hardy das Landleben liebevoll und detailreich beschrieben. Im Laufe des Buches finden sich viele solche Beschreibungen, die das Alltagsleben informativ schildern - teils ist das herrlich malerisch, oft merkt man aber, welche Härten die einfache Landbevölkerung erfahren mußte. Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Kreisläufe sind sehr interessant, geben dem Leser vielerlei Einblicke. Auch die landschaftlichen Beschreibungen und die sich ändernden Jahreszeiten erstehen von den Seiten farbig auf. Manchmal verlieren sich diese Beschreibungen ein wenig zu sehr im Detail und gerade in der Mitte des Buches schleicht sich stellenweile eine gewisse Langatmigkeit ein, dies aber nur vorübergehend. Im Gesamten ist der Schreibstil sehr erfreulich und fast durchweg ist man gespannt, was als nächstes geschehen wird. Hardy versteht sich darauf, den Spannungsbogen aufrechtzuhalten und neue Wendungen einzubauen.
Der Stil ist zudem erfreulich zugänglich, wesentlich eingängiger als bei so manchem anderen Klassiker. Oft fließt auch in Nebensätzen und Beobachtungen herrlicher Humor ein. Man merkt überhaupt - Hardy kannte die Menschen, sah kenntnisreich und kritisch hinter die Fassaden. Seine Charaktere sind sorgfältig gezeichnet, facettenreich. Gerade bei den beiden Männern in Tess' Leben war ich beim Lesen immer wieder hin- und hergerissen, und auch sonst ist kein Charakter schablonenhaft, keiner leicht einzusortieren. Die Charakterzeichnung ist eine absolute Stärke des Buches.
Tess selbst wird im Laufe des Buches ab und an ein wenig anstrengend. Sie erlebt von Anfang an Unrecht durch andere, wird immer wieder enttäuscht, verraten, ausgenutzt. Während sie einerseits viel Würde und Stolz zeigt, nie den leichten Ausweg sucht, hat sie auch die Tendenz, sich selbst tief in den Staub zu treten und negativ zu sehen. Das nahm manchmal doch übertriebene Ausmaße an. Andererseits beschreibt Hardy ihre innere Entwicklung durchaus meistens glaubhaft und wir merken aus, wie sie durch all das, was ihr widerfährt, geformt wird. Sie läßt den Leser nicht kalt, man fühlt mit ihr, nimmt Anteil.
Das auf sie hereinprasselnde Unheil nimmt ebenfalls ab und an etwas zu starke Ausmaße an, meistens aber ist es nachvollziehbar, erklärt sich aus der Zeit und dem Umfeld, in dem sie lebt. Eine große Schwäche war für mich aber, daß Hardy die bei den viktorianischen Schriftstellern so beliebten unglaublichen Zufälle sehr überbenutzt. Das war an manchen Stellen so unwahrscheinlich, daß es unglaubwürdig wurde und ich es nicht ganz ernst nehmen konnte. Diese gelegentlichen Schwächen werden dann aber durch einen mitreißenden atmosphärischen letzten Teil wieder wettgemacht, der uns in intensiven Bildern dem dramatischen Ende entgegenführt, welches dann mit eindrücklicher Symbolik erzählt wird.
So bietet Hardy uns eine tragische Geschichte, die zwar ein paar Schwächen hat, aber gerade durch ihre psychologisch ausgefeilte Betrachtung der Menschen und die gekonnten Beschreibungen einen tiefen Eindruck hinterläßt.