Anspruchsvoller historischer Roman für rechtsgeschichtlich interessierte Menschen
In der letzten Zeit kommen mir immer mehr Bücher unter, die nicht ganz eindeutig einem Genre zuzuordnen sind, und damit meiner Meinung nach die literarische Landschaft sehr bereichern - aber gleichzeitig ...
In der letzten Zeit kommen mir immer mehr Bücher unter, die nicht ganz eindeutig einem Genre zuzuordnen sind, und damit meiner Meinung nach die literarische Landschaft sehr bereichern - aber gleichzeitig die Lesenden herausfordern, sich auf sie tief einzulassen. Um so ein Buch handelt es sich auch bei dem neuen Wälzer von Tore Renberg - das Buch umfasst mehr als 700 Seiten, noch ohne den Anhang, den man sich online runterladen kann - und bewegt sich an den Grenzen zwischen guter Literatur, historischem Roman und Sachbuch.
"Die Lungenschwimmprobe" basiert in vielen Teilen auf realen historischen Tatsachen, die der Autor in jahrelanger akribischer Arbeit in Archiven zusammengetragen, durch viele Details zu den einzelnen Personen ausgeschmückt und zu einem spannend zu lesenden historischen Roman entwickelt hat. Ich habe mich beim Lesen des Buches sehr gut unterhalten gefühlt und gleichzeitig viel über das Leipzig an der Schwelle zwischen Mittelalter und Aufklärung sowie über die Grundlagen der frühen wissenschaftlichen Medizin und Rechtsgeschichte gelernt.
Worum geht es? Die jugendliche Anna, 14 oder 15 Jahre alt, so genau geben das die historischen Quellen nicht her, Tochter eines Gutsbesitzers, wurde vom Knecht geschwängert und hat ein Kind zur Welt gebracht und dieses gemeinsam mit ihrer Mutter in der Erde vergraben. Die Leiche des Kindes wurde vom Dienstpersonal gefunden und Anna als Kindsmörderin angezeigt. Anna bestreitet dies vehement, beteuert ihre Unschuld und gibt an, dass das Kind schon tot zur Welt gekommen sei. Und dass sie außerdem von ihrer Schwangerschaft nichts gewusst habe und von der Geburt, zu diesem Zeitpunkt alleine zu Hause, völlig überrascht worden sei.
Wir befinden uns zeitlich in den letzten Ausläufern des Mittelalters, in einer zutiefst religiös geprägten Gesellschaft, Ende des 17. Jahrhunderts, eineinhalb Jahrhunderte nach Martin Luther und in protestantischem Gebiet, und einige Jahrzehnte nach dem 30-jährigen Krieg, der in der Erinnerung der Menschen immer noch sehr präsent ist. So ist auch das Rechtssystem noch sehr stark durch den Einfluss der Kirche geprägt, Folter, Kerker, letzte Hexenprozesse und die Todesstrafe sind weit verbreitet und werden als vereinbar mit der Religion, ja, sogar als von Gott gewollt angesehen und durch Bibelpassagen gerechtfertigt. Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist verboten, ein uneheliches Kind wird als große Schande für die betroffenen Frauen angesehen, und mit den meisten Frauen, die des Kindesmordes bezichtigt werden, wird kurzer Prozess gemacht, sie werden - ob unschuldig oder nicht - unter Folter zu einem Geständnis gezwungen und danach enthauptet.
Wird es Anna auch so ergehen? Zwei Faktoren sind auf ihrer Seite: einerseits ist sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen mit ähnlichem Schicksal, als Tochter eines Gutsbesitzers aus einer reichen Familie und hat einen liebenden Vater, der sich mit aller Kraft für sie einsetzt und einen Anwalt für sie engagiert, um sie zu verteidigen. Und andererseits zeigen sich neben den letzten Ausläufern des Mittelalters auch schon die ersten Vorboten der Aufklärung und einer rationalen, wissenschaftlichen Herangehensweise, die allerdings erst noch dafür kämpfen muss, sich zu behaupten.
Der Anwalt ist ein junger Mann namens Christian Thomasius, eine reale historische Persönlichkeit, der sich später im Sinne der Aufklärung und der Rechtsgeschichte einen Namen machen wird. Dieser holt unter anderem medizinische Gutachten ein, unter anderem eines des angesehenen Arztes Dr. Schreyer, der bei dem verstorbenen Säugling eine sogenannte "Lungenschwimmprobe" durchgeführt hatte. Dazu gibt es ein reales historisches Dokument, auf das sich der Autor stützt. Der Arzt hatte also das tote Baby obduziert, ihm die kleine Lunge entnommen und diese in Wasser eingelegt und über die Ergebnisse berichtet.
Dahinter stand die Annahme, dass ein Kind, das im Mutterleib verstorben sei, nie geatmet hätte, dadurch die Lunge schwerer sei und im Wasser sofort sinken würde. Während ein Kind, das lebendig zur Welt gekommen und erst danach verstorben sei, eine Lunge hätte, die sich erstmalig mit Luft gefüllt hätte, wodurch diese bei der Lungenschwimmprobe schwimmen und nicht sinken würde. Also ein wissenschaftlich-experimentelles Denken, das für die damalige Zeit sehr innovativ und neu war und dadurch noch nicht von allen anerkannt, auch in medizinischen Kreisen und umso mehr vor den stark religiös beeinflussten Gerichten.
Die Lungenschwimmprobe von Annas Baby geht - das erfahren wir schon ziemlich zu Anfang des Buches - zu Annas Gunsten aus: die kleine Lunge sinkt im Wasser, was auf ein totgeborenes Baby hindeutet. Nur wird das in einer noch so stark vom Mittelalter geprägten Zeit reichen, um die junge Frau vor dem Tode zu bewahren? Damit beschäftigt sich das Buch auf den folgenden vielen hundert Seiten. Und mit noch so vielem mehr.
Wir erleben die Gesellschaft in Leipzig und Umgebung Ende des 17. Jahrhunderts aus vielen Perspektiven mit und begleiten nicht nur das Leben von Anna und ihrer Familie, sondern blicken auch durch die Augen von Annas Strafverteidiger und seiner Familie, lernen den Arzt Dr. Schreyer etwas näher kennen, ebenso wie den Scharfrichter, seine Familie und Lebensumstände, diverse Priester und noch so einige andere Personen. Dadurch entsteht insgesamt ein lebendiges und facettenreiches Gesellschaftsporträt einer spannenden Zeit, das so viel mehr ist als nur die Abhandlung eines Gerichtsfalls.
Mir persönlich hat das Buch außerordentlich gut gefallen, weil es mich eben nicht nur unterhalten, sondern auch gebildet hat und ich das Gefühl habe, dank der umfangreichen Recherche des Autors und des in vielen Bereichen auf historischen Tatsachen beruhenden historischen Romans auch meine Geschichtskenntnisse deutlich erweitert zu haben. Auch zum Nachdenken darüber, was es bedeutet, wenn eine Epoche endet und die nächste beginnt, aber auch, was wir durch den wissenschaftlichen Ansatz gesellschaftlich alles gewonnen haben, regt das Buch sehr an. Von mir bekommt das Buch deshalb verdiente 5 Sterne!
Wem würde ich das Buch empfehlen? Zuerst einmal allen, die sehr an Geschichte, insbesondere Rechts- und Medizingeschichte, interessiert sind, die generell anspruchsvolle Bücher mögen und die sich von Literatur weit mehr erwarten, als nur unterhalten zu werden. Nur mit Vorbehalt empfehle ich es Menschen, die ansonsten fast nur historische Romane, Krimis und ähnliches lesen und bei denen der reine Unterhaltungsaspekt im Vordergrund steht - diese könnten das Buch durchaus an manchen Stellen als langatmig empfinden. Es ist eben deutlich mehr Gesellschaftsporträt als Krimi, und das behandelte Thema und die Epoche werden ausführlich und von vielen Perspektiven umkreist. Für mich macht das eine der herausragenden Qualitäten des Buches aus.
Wer aber mit der Erwartung an das Buch herangeht, einen "typischen" historischen Roman (diese sind oft sehr spannend geschrieben, was aber zulasten geschichtlicher Detailtreue und vielfältiger Perspektiven geht) zu lesen, könnte möglicherweise enttäuscht werden. Es empfiehlt sich jedenfalls, sich vor der Anschaffung genau darüber zu informieren, um was für ein Buch es sich handelt und zu reflektieren, ob man persönlich solche Bücher mag und sich auf so eine umfangreiche und tiefgehende Lektüre einlassen will.