Zukunftsvision: Konsumwahn plus Vereinsamung
Die Flüchtigen von Alain Damasio ist ein herausforderndes Meisterwerk und eins meiner Lesehighlights in 2021. Schon die äußere Erscheinung ist beeindruckend. Der halbtransparente Kolibri in der Bubble-Cloud ...
Die Flüchtigen von Alain Damasio ist ein herausforderndes Meisterwerk und eins meiner Lesehighlights in 2021. Schon die äußere Erscheinung ist beeindruckend. Der halbtransparente Kolibri in der Bubble-Cloud ist gerade noch zu erkennen, Licht und Schatten erscheinen unbestimmt. Fast gar nicht zu erkennen sind Autor und Titel des Romans. Beides lässt sich leichter fühlen als lesen. Alles schwimmt, scheint ständig in Bewegung zu sein. So gibt bereits das Cover in Grundzügen preis, was die Leser:innen erwartet.
Es gibt eine urbane Legende, wonach sogenannte Flüchtige existieren, die in toten Winkeln leben, immer dort, wohin wir Menschen gerade nicht schauen und dadurch für uns nicht wahrnehmbar sind. Lorca und Sahar, die Protagonisten des Romans haben vor zwei Jahren ihre Tochter Tishka verloren. Sie ist einfach über Nacht aus ihrem Kinderzimmer verschwunden, ohne dass es auch nur einen Hinweis auf einen Einbruch oder Ähnliches gegeben hätte. Während Sahar an eine Entführung glaubt und sich an Schreckensszenarien zermartert, verfolgt Lorca die Theorie der Flüchtigen. Er vermutet, Tishka ist mit den Flüchtigen mitgegangen. Deshalb lässt er sich auch zum Flüchtigenjäger ausbilden. Lorca glaubt fest daran, dass seine Tochter am Leben ist und dass er sie wiederfinden kann.
Eingebettet ist die Suche nach der verschollenen Tochter in eine überwachte, von maximalen Konsum bestimmte Welt um 2040. Städte, die wir heute kennen, gehören Konzernen. Der Zutritt innerhalb der Städte ist über Tarife geregelt. Für ein bequemes Leben, braucht es schon mindestens ein Premiumpaket. Darüber hinaus wird jeder ständig mit personalisierter Werbung gequält. Die Menschen insgesamt wirken gehetzt. Zur Finanzierung des eigentlich Unnötigen müssen sie teilweise erniedrigenden Jobs nachgeben. Für echtes Miteinander bleibt keine Zeit, das letzte Fünkchen Freizeit verbringen die Menschen in ihrer virtuellen Realität. Jeder verliert sich somit in der für ihn gedachten Blase.
Damasio zündet mit seinem Roman ein regelrechtes Feuerwerk kreativer Fortschreibung unseres aktuellen Lebens in die Zukunft, immer gespickt mit einem Pfund Gesellschaftskritik. Es ist kaum möglich, im Nachhinein alle Aspekte seines Romans wiederzugeben, geschweige denn, dies in sortierter Form zu tun. Damasio beschäftigt sich mit unserem rücksichtslosen Überkonsum und dessen Folgen für Flora und Fauna, mit den Möglichkeiten des technischen Fortschritts, wie dieser uns mental und körperlich evolutionstechnisch zurück schreiten lässt, sowie mit sozialer und kultureller Ausgrenzung. Dabei bedient sich der Autor einer gehobenen, mal wissenschaftlichen, mal philosophischen Sprache, die insgesamt noch recht flüssig lesbar ist.
Das ist allerdings noch nicht das Ende seiner kreativen, in meinen Augen schon künstlerischen Arbeit. Damasio fügt Besonderheiten in der Typografie ein. Der normale Fließtext wird mit zusätzlichen Zeichen angereichert, die die Leser:innen führen. Teilweise sind Buchstaben unvollständig. Keine Sorge, durch die langsame Einführung lässt sich das gut verstehen. Im Verlauf arbeitet der Autor zusätzlich mit Schüttelwörtern, was ich faszinierend fand, weil das beim Lesen, sobald man sich darauf eingelassen hat, automatisch wieder ausgeglichen wird.
Mich konnte Damasio begeistern. Sein Ideenreichtum hat mich maximal überzeugt. Ich kann nicht behaupten, all seine Ausführungen zu hundert Prozent verinnerlicht, also mir gemerkt zu haben. Es ist halt kein Roman zum Nacherzählen. Entscheidender für mich war der Gesamteindruck, den der Roman mir vermittelt hat, und die Empfindungen, die er bei mir ausgelöst hat. Die Flüchtigen und die Menschen in ihrer KI-Blase haben mich intensiv, auch in den Lesepausen beschäftigt. Selbst jetzt, wo ich die Lektüre beendet habe, wirkt der Roman noch nach.
„Die Flüchtigen“, der etwas über ein Kilo schwere Roman von Alain Damasio benötigt Zeit. Aus meiner Sicht macht es keinen Sinn, den Roman in Zehn-Seiten-Tranchen zu lesen. Gerade deshalb empfehle ich diesen hervorragend komplexen Roman gern all denjenigen, die mal ihre Komfortzone verlassen wollen und offen für experimentelles Lesen sind. Es lohnt sich.