Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich in "Hundert Lügen" richtig eingelesen hatte. Der Leser wird zu Beginn ins kalte Wasser geworfen und bekommt nur eine Menge Andeutungen darüber, was den Protagonisten Manon und Kris vor zehn Jahren passiert ist, aber kein konkretes Bild. Das setzt sich erst nach und nach zusammen und ist wirklich furchtbar; sobald die Vergangenheit dann anfing, sich mit der Gegenwart zu vermischen, sobald die Bedrohung wieder aktuell wurde, wurde das Buch dann richtig spannend und ich konnte es kaum aus der Hand legen.
Manon und Kris sind 15 und 17 Jahre alt, doch es ist sehr leicht, das zu vergessen. Durch die Erlebnisse in ihrer Kindheit sind beide ziemlich kaputt und haben Probleme in ihrem Leben, aber zugleich wirken sie auch erwachsen. Die meiste Zeit war mir gar nicht bewusst, dass sie eigentlich noch so jung sind, gerade, weil ihr Umfeld sie nicht wirklich als Kinder behandelt. Beide Charaktere waren mir sympathisch und ich habe mit ihnen mitgelitten; man merkt, dass sie gute Menschen sind und gerade einander sehr lieben. Das war es aber auch, was es mir schwer gemacht hat, Teile des Buches zu lesen. Die Kapitel sind abwechselnd aus der Ich-Perspektive der beiden erzählt und deshalb weiß man, inwieweit sie in die Vorkommnisse vermittelt sind, was die ganzen Verdächtigungen und Anschuldigungen der eigenen Familie schwer zu verdauen machte. Aus einer objektiven Sicht waren sie vielleicht verständlich, nur hat man diese Sicht als Leser nicht und so ist man einfach nur entsetzt, was den beiden Jugendlichen zugemutet wird. Das war von der Autorin sehr klar herausgearbeitet und es hat zu dem Schrecken, der ihnen zustößt, beigetragen.
Die Handlung beginnt etwas langsam, entwickelt sich danach jedoch sehr stark. Man fragt sich mit den Protagonisten, was wahr und was gelogen ist, was ihnen wirklich zugestoßen ist und wer alles darin verwickelt ist. Lange kann man niemandem vertrauen und dieses Gefühl wurde eindringlich beschrieben. Gerade die zweite Hälfte ist unglaublich spannend, da viel passiert und ich mir auch nicht vorstellen konnte, was alles herauskommen würde und ob vielleicht doch alles anders ist, als es bisher dargestellt worden war. Die Auflösung am Ende war dann stimmig und passend zur Geschichte; es ist schwer, einen konkreten Schuldigen zu bestimmen, weil irgendwie jeder aus unterschiedlichen Gründen verwickelt ist und das hat mir gut gefallen. Alle haben eine komplexe Motivation und eine schwarz/weiß-Zeichnung fällt schwer.
Insgesamt kann ich "Hundert Lügen" trotz der kleinen Schwächen nur positiv bewerten; es ist eine fesselnde, erschreckende Geschichte.