Der Himmel ist bunt
"Milchmann" objektiv zu bewerten, fällt mir wahnsinnig schwer. Ginge es nach der reinen Lektüreerfahrung, würde ich es schlecht bewerten, denn es ist es ein unendlich anstrengendes und zähflüssiges ...
"Milchmann" objektiv zu bewerten, fällt mir wahnsinnig schwer. Ginge es nach der reinen Lektüreerfahrung, würde ich es schlecht bewerten, denn es ist es ein unendlich anstrengendes und zähflüssiges Buch. Ein Buch, das man mehrmals abbrechen möchte, es in die Ecke schleudern um es nie wieder zu öffnen. Und dann öffnet man es doch wieder und wird hineingezogen in eine Literatur voller Sprachgewalt und eine fiktionale Welt voller buchstäblicher Gewalt. "Milchmann" ist nämlich auch auf seine Art brilliant, gesellschaftskritisch, politisch, wagemutig, experimentell und unvergleichlich einzigartig. Ob es den renommierten Booker-Preis 2018 zurecht gewonnen hat? Ich kann es nicht beurteilen, da ich die Mitbewerber nicht gelesen habe. Die Auszeichnung hat aber sicher nicht nur politische Hintergründe.
Die Erzählweise ist speziell. Stellenweise entfaltet sie eine gewisse Sogwirkung, meistens ist sie aber ermüdend, lamentierend, enervierend. Der retrospektive innere Monolog der Ich-Erzählerin, der vorwiegend aus Litanei-artigen, teilweise halbseitigen Mammutsätzen und einer sperrigen Syntax besteht, verlangt dem Leser einiges ab, vor allem aber ein hohes Maß an Konzentration. Der Roman ist per se eine einzige Digression. Vom eigentlichen Thema, nämlich dem Stalking der Ich-Erzählerin durch den Milchmann, wird ständig abgeschweift, obwohl es am Anfang vorwiegend um das Thema geht - was gleichermaßen verwirrend ist.
Die Handlung ist denkbar dünn wie einfach: Eine 18-jährige Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, lebt in einer ungenannten Stadt (Belfast in den 1970er Jahren), in der Bespitzelung, Gewalt, ziviler Ungehorsam und Terror alltäglich sind. Sie ist das mittlere Kind und eine von sehr vielen Töchtern einer 11-köpfigen Familie , wobei ihr Vater - der an einer psychischen Krankheit litt - und einer ihrer Brüder bereits verstorben sind (Letzterer aufgrund eines Anschlags).
Die Ich-Erzählerin macht sich verdächtig, weil sie scheinbar subversive Verhaltensweisen an den Tag legt, wie im Gehen zu lesen. Das ist ihre Art des Eskapismus, genau wie ihre Lektürewahl, die moderne Literatur ausklammert und die des 19. Jahrhunderts bevorzugt. Dieses unkonforme, unpolitische Verhalten ruft den ominösen Milchmann auf den Plan, der die sie bis zu seinem gewaltsamen Tod stalken wird. Die Bedrohung, die von Milchmann ausgeht, ist vage, subtiles Stalking, immer in der Schwebe und Psychoterror pur.
Das Stalking wiederum führt zu einer verhängnisvollen Spirale der Verdächtigungen, zu einer Hexenjagd, in der die Ich-Erzählerin zur Zielscheibe wird. Anna Burns zeigt hier gewissermaßen eine verkehrte Welt auf: Ein Verhalten wie das der Ich-Erzählerin, obwohl harmlos, erregt unangenehme Aufmerksamkeit. Ein guter bzw. “normaler” und unpolitischer Mensch zu sein ist verdächtig und subversiv, Mord, Gewaltexzesse und Erfahrungen des sinnlosen Todes hingegen alltäglich und Teil des Straßenbildes.
Anna Burns legt den Nordirlandkonflikt unters Messer ihrer Protagonistin, die ihn mit schmerzhafter Klarheit und Detailliertheit seziert. Das Sujet ist sicher für jeden Außenstehenden gewöhnungsbedürftig. Die Tatsache, dass man in ständiger Bedrohung lebt, nur weil man der falschen Religion angehört - ob man sie jetzt praktiziert oder nicht - ist harte Realität. In dieser Gesellschaft, in diesem Land, in dieser Stadt, in der die Ich-Erzählerin vor sich hin existiert, möchte niemand leben. Ich habe noch nie so oft das Wort "Autobombe" in einem einzigen Text gelesen.
Kann eine Geschichte funktionieren, in der niemand, der darin vorkommt, einen echten Namen hat? Ja, kann sie. Nach einer gewissen Lesezeit hat man sich daran gewöhnt und es fühlt sich völlig natürlich an. Namen werden zu Platzhaltern in einer Gesellschaft, in der in Schubladen gedacht wird: Irgendwer Mc Irgendwas, Vielleicht-Freund, Themenfrauen, Tablettenmädchen, Mittelschwester, Atomjunge, Milchmann. Dennoch: Als dann neben dem Milchmann auch noch der "Echte Milchmann" auftaucht, wird es langsam anstrengend, die Figuren voneinander zu unterscheiden. Die kleinen Schwestern der Ich-Erzählerin ("Mittelschwester"), drei an der Zahl und alle unter zehn Jahren alt, sind sowieso ein Kollektiv. Sie zeichnen sich alle durch Hochbegabung und nicht-altersentsprechende Intellektualität und Belesenheit aus.
Der Tenor der ganzen Anonymität: Alle sind austauschbar und besondere Merkmale gehören nicht in diese Gesellschaft, die nichts mehr scheut als Individualität. Namen verleihen Identität und Einzigartigkeit - etwas das hier nicht erwünscht ist.
Allerdings: Wo ist eigentlich der Humor? Ist es ein spezieller nordirischer Insider-Humor, den Außenstehende einfach nicht begreifen oder ein solcher, der in der Übersetzung verloren geht? Geschmunzelt habe ich vielleicht an einer oder zwei Stellen. Alles in allem aber ist das Buch ein zutiefst ernstes, wenig erfreuliches, oft deprimierendes.
Der Roman ist auch ein feministisches Manifest. Es geht mitunter darum, wie Frauen sich - weitgehend alleine - ihre Welt erschaffen und wie Männer versuchen, sie wieder einzureißen bzw. in ihren Grundfesten zu erschüttern. Männer (symbolisch: der Milchmann) bedrohen mit ihren Gewaltfantasien, ihrer Doktrin, ihrem Stalking und ihrem Machtstreben die komplexe (der Himmel ist bunt), differenzierte, vielfarbige, literarisch-künstlerische Existenz des Weiblichen (symbolisch: die Ich-Erzählerin).
"Milchmann" ist innovativ, ein literarisches Experiment, prädestiniert um zu polarisieren.
Dieses Buch ist eine Challenge, eine literarische Tour-de-Force, eine Bergbesteigung, ähnlich wie "Ulysses" von James Joyce. Man hat nach der Lektüre das Gefühl, einen literarischen Berg bestiegen zu haben, zufrieden, dass man den Aufstieg geschafft hat, aber auch froh ihn wieder verlassen zu dürfen.
“Milchmann” ist keine leichte Lektüre, sondern eine, die dem Leser ein hohes Maß an Konzentration und Bereitschaft für sprachliche Komplexität abverlangt. Wenn man sich aber darauf einlassen möchte, eröffnet das Buch manchem Leser vielleicht eine neue Sicht auf die Dinge, das Schöne hinter dem Grausamen und die vielen bunten Farben des Himmels, der alles andere als nur blau ist.