Was geschah in jener Septembernacht 1908 mit Celia Sudworth?
Im Prolog dieses Buches wird Rose Mandeville im September des Jahres 1908 Augenzeugin einer höchst seltsamen Szene. Mitten in der Nacht wird ihre Bekannte, die junge Lady Celia Sudworth, gegen ihren Willen aus dem Haus geschafft. Diese Beobachtung prägt sich tief in Rose ein. Ihre Suche nach der seither wie vom Erdboden verschwundenen jungen Frau zieht sich wie ein roter Faden bis zur letzten Seite dieses Buches und hat eine überaus starke Motivation: „Celia steht für all jene Frauen, die keine Stimme haben, weil sie keine Rechte haben, weil andere über ihr Schicksal bestimmen.“
Der zweite Band der Trilogie aus der Feder von Annis Bell konzentriert sich auf Lady Rose Mandeville, eine jener drei Freundinnen, die in einem ungewöhnlichen Haus auf den Hügeln, umgeben von Hecken, einem Rosengarten und Zypressen und einem See im Wald ihre Kindheit verbrachten. „Damals glaubten wir, es würde niemals enden, wir dachten, dass das Leben unendlich ist und jeder neue Tag nur noch schöner und verheißungsvoller würde…“ Der Kriegsausbruch beendete das Wunschdenken und die Träume von Alice Buxton, Rose Mandeville und Vera Lyttleton. Während der Kontinent in Blut und Tränen versinkt, kämpfen die drei jungen Frauen auf ihre Weise um ihr Glück. Alice, die Protagonistin des ersten Buches, lebt mit ihrem Vater Geoffrey in Hill House und unterrichtet in ihrer Montessori-Schule. Die überzeugte Pazifistin ist eine liebenswerte und fröhliche Frau, mitfühlend und hilfsbereit. Sie führt ein unkonventionelles Leben und ist glücklich mit ihrer großen Liebe Lorenzo Ranieri. Doch Lorenzo befindet sich derzeit als neutraler Beobachter und unbefangener Berichterstatter mitten im Kriegsgebiet.
Die selbstbewusste Rose besitzt eine ausgeprägte Persönlichkeit und einen starken Charakter. Sie wehrt sich vehement gegen die nachdrückliche Erwartungshaltung ihrer aristokratischen Eltern und bricht aus ihrem vorbestimmten Leben aus. Das Engagement im Kampf der Frauen um das Wahlrecht und die Gleichberechtigung bestimmt ihr Denken und Handeln. Roses Ruf als streitbare Suffragette und ihr Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der Frauenrechtsbewegung bringen sie wiederholt in Schwierigkeiten. Doch die blonde Schönheit setzt alle Hebel in Bewegung, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihre Bemühungen, den Menschen die Schattenseiten des Krieges bewusst zu machen und ihr Plädoyer für soziale Reformen, faire Arbeitsbedingungen und gleiche Rechte hinsichtlich Kinder und Besitz machen sie zu einer Frau, die man kritisch im Auge hat. Roses verbotene Gefühle für den unglücklich verheirateten Anwalt Michael Wodehouse werden von dem charismatischen Juristen erwidert, doch Rose widerstrebt es zutiefst, eine Ehe zu brechen und eine heimliche Affäre zu beginnen. Der Wunsch nach einer Scheidung ruft Michaels rasend eifersüchtige und rachedürstende Ehefrau Blanche auf den Plan.
Während Alice und Rose sich in relativer Sicherheit befinden, setzt Vera ihre Fähigkeiten als ausgebildete Krankenschwester mitten im Kriegsgebiet ein. Vera ist in diesem Folgeband ein wenig weicher geworden, ihre schwierige, verschlossene und eigensinnige Art wich einer gewissen Umgänglichkeit und Toleranz anderen Menschen gegenüber.
In dieser Fortsetzung trifft man auf viele bekannte Gesichter aus dem ersten Band, auch Spencer Mandeville wird eine gewichtige Rolle zuteil. Der liebenswerte und großherzige Bruder von Rose fliegt als Pilot für die Royal Flying Corps Kampfeinsätze und gilt nach einem feindlichen Artilleriefeuer bei Neuve-Chapelle als vermisst. Roses Mutter Margaret, die kalte und unmenschliche Duchess Mandeville, war mir bereits im ersten Band zutiefst unsympathisch, was sich auch im vorliegenden Buch nicht änderte. Ihr Ehemann, Duke Douglas Mandeville, findet sich als Mitglied der britischen Hocharistokratie mit der neuen Situation nicht zurecht. Sein außer Kontrolle geratener Hang zum Spiel und seine zahlreichen Affären brachten die Familie bereits an den Rand des Ruins. Ob er fähig ist, im zweiten Band seine Fehler wiedergutzumachen?
Die Autorin brachte zudem weitere interessante und vielschichtige Akteure in die Handlung ein. Neben Alices exzentrischen, aber liebenswerten Künstlerfreund Raymond „Ray“ Saull betritt mit der Malerin Mabel Goodwyn eine ungezwungene Befürworterin des Frauenwahlrechts die Bühne. Sie unterstützt Roses Bestreben nach Unabhängigkeit und gewährt ihr Unterkunft. Major Steve Norbury ist mir auf der Stelle ans Herz gewachsen. Der junge Offizier aus dem kleinen Fischerdorf Coverack in Cornwall verliert trotz einer schlimmen Verwundung niemals seine lebensbejahende Haltung und wird nicht nur für Spencer, sondern auch für Rose zu einer wichtigen Figur. Auch der sympathische Butler der Buxtons namens Newton erhielt einen kleinen Gastauftritt – er ist für Rose ein Fels in der Brandung und bezaubert durch seine umsichtige und mitfühlende Art. Zu guter Letzt erhielten in diesem Buch auch namhafte Figuren der Frauenbewegung eine Rolle, der interessierte Leser darf sich auf kleine Einblicke in die Aktivitäten von Sylvia und Christabel Pankhurst, Jodie Green, Millicent Fawcett, Lady Phyllis Linnsdale und Doktor Florence Dalgrave freuen.
Sowohl der einnehmende Schreibstil, als auch die bildhaften Beschreibungen der Autorin und die hervorragende Charakterzeichnung der handelnden Figuren haben mir erneut ein herausragendes Lesevergnügen bereitet. Die Kriegshandlungen und die britische Suffragetten Bewegung bilden bedeutende Rahmenhandlungen, sie bringen Spannung und Emotionen ins Buch. Das Festhalten an der alten Gesellschaftsordnung und an ihren Standesdünkel wird durch den Duke und die Duchess of Mandeville veranschaulicht. Doch auch sie können der Aufbruchsstimmung und dem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht mehr viel entgegenhalten. „Wenn man den weiblichen Verstand schärft, indem man ihn bildet, ist Schluss mit dem blinden Gehorsam.“ (Mary Wollstonecraft, 1759 - 1797)
FAZIT: Wie bereits dessen Vorgänger hat mich auch der zweite Band dieser eindrucksvollen Trilogie sofort in seinen Bann gezogen. „Sturm über Mandeville“ besticht durch eine perfekte Mischung aus Abenteuer, Liebe und Romantik und bietet darüber hinaus Einblicke in die Ereignisse im Ersten Weltkrieg. Das Buch thematisiert die Kämpfe mutiger und entschlossener Frauen um jene Rechte, die ihnen von Natur aus zustehen, aber in einer von Männern beherrschten Gesellschaft vorenthalten wurden. Ich würde interessierten Lesern jedoch zum besseren Verständnis die Einhaltung der Reihenfolge dieser Trilogie empfehlen:
1. Hill House. Die drei Freundinnen.
2. Hill House. Sturm über Mandeville Park.
Begeisterte fünf Sterne für dieses überaus unterhaltsame und spannende Leseerlebnis, das ich sehr genossen habe. Ich sehe dem Erscheinungsdatum des finalen Bandes bereits mit großer Vorfreude und hoher Erwartungshaltung entgegen.