Dieser Spiegel-Blick
Der Autorin und Journalistin Antonia Baum gelingt mit „Siegfried“ ein brillantes Psychogramm einer jungen Frau und Mutter, die nervlich zusammenbricht, sich neu orientieren muss und mit alten, übertragenen ...
Der Autorin und Journalistin Antonia Baum gelingt mit „Siegfried“ ein brillantes Psychogramm einer jungen Frau und Mutter, die nervlich zusammenbricht, sich neu orientieren muss und mit alten, übertragenen Erwartungen und emotionaler Erpressung in der Kindheit aufräumen muss.
Die namenlose Ich-Erzählerin ist Radiomoderatorin in Berlin und leidet bei ihrem Roman unter einer Schreibblockade – aber nicht nur das zwingt sie psychisch in eine Überforderung und in Angstzustände; auch der Streit mit ihrem Partner Alex und übertriebene Sorgen um Siegfried lasten schwer auf ihr. Siegfried – ihr Stiefvater, der immer alles dominant und nonchalant zusammenhält, weiß wo es lang geht, erfolgreich ist und ihr einen festen Halt im Leben bietet. Und der im Kontrast zu ihrer eher schwachen Mutter steht, die Siegfried alles Recht machen will. Alex dagegen ist ein Tagträumer, Barkeeper und künstlerisch interessiert, etwas verpeilt, aber ein guter Vater der gemeinsamen Tochter Johnny. Eines Morgens findet sich die Protagonistin im Wartezimmer einer Psychiatrie wieder – sie erwartet Hilfe, einen Ruhepol von den Verpflichtungen und der gedanklichen Raserei sowie den täglichen zwanghaften To-Do-Listen und resümiert schmerzvoll und sprunghaft über ihre Vergangenheit.
„Ich gewöhnte mir ein Lachen an, das klang, als würde ich rufen oder irgendwo dagegentrommeln. Diese Härte, die ich mir zulegte, bedingte aber auch eine permanente Angekotztheit. Es war, als versuchte ich, mich an einer glatten Wand festzuhalten – nicht hinunterzufallen, mir aber auch nicht helfen zu lassen.“ S. 94
Bei ihren assoziativen und nicht chronologischen Erinnerungen taucht sie tief ein in ihre Beziehungen, auch in die ihrer Kindheit, die sie viel bei Siegfrieds strenger Mutter Hilde verbracht hat – der Alltag dort war geprägt von Kälte, Zwängen, Regeln und sehr verurteilenden, durchdringenden Blicken von Hilde, die sich nicht nur in den Spiegeln ihrer Wohnung verankern, sondern über Generationen hinweg für Härte sorgen.
Diese subtil gewaltvollen Erfahrungen spiegeln sich nun in den Reflexionen der Erzählerin wider, die Antonia Baum brillant und sehr feinfühlig-scharfsinnig in sich aneinanderreihenden, soghaften Schachtelsätzen bringt. Schmerzvoll, ehrlich und sehr klug zeichnet sie ein Bild, wie Kriegstraumata auf nachfolgende Generationen übertragen werden, aber auch, wie sich eine verletzende Erziehung in das kindliche Seelenleben einprägt.
Der Roman ist keine leichte Kost, dafür aber psychologisch messerscharf ausgeleuchtet und voller Tiefgründigkeit – kleinste Beobachtungen an sich und an ihrer Außenwelt fließen präzise komponiert in die Gedanken der Protagonistin ein, die sich Stück und Stück ein Bild ihres Familienlebens zusammensetzt, das immer geprägt war von Hildes strengen Blicken und Handlungsanweisungen sowie einer permanenten Sprachlosigkeit. Ein sehr intensiver, faszinierender und einfühlsamer Roman über Herkunft, Prägung, Elternschaft und Gewalt, der stilistisch sowie inhaltlich bewegend-eindringlich überzeugt.