Ein großes Plädoyer, genau darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten
„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das ...
„Malnata“ von Beatrice Salvioni ist nicht umsonst ein Buch, das innerhalb eines Jahres in 35 Ländern verlegt wurde.
Wir tauchen mit den beiden Hauptdarstellerinnen ein ins Italien der 30er Jahre, das geprägt von Mussolinis Faschismus und extrem patriarchalen Katholizismus war: Keine gute Zeit für unangepasste Frauen. Oder Mädchen. (Props an die Autorin gehen raus, dass sie auch sichtbar macht, wie sehr auch die Männer in diesem System gefangen sind und ihre toxische Männlichkeit sich gegen sie richtet.) Francesca und Maddalena (La Malnata) sind dabei als Protagonistinnen zunächst scheinbar so unterschiedlich wie es nur sein kann – doch je näher wir beiden im Verlauf des Buches kommen, desto klarer schält sich ein gemeinsamer Kern heraus. Beide suchen schon verzweifelt ihre Identität, kämpfen und Sichtbarkeit, Autarkie und die Abgrenzung von geltenden Rollenbildern.
Das Buch startet mit einer sehr gewaltsamen Szene, derentwegen ich dem Verlag dringend ans Herz legen möchte, eine Triggerwarnung voranzustellen, da der Klappentext einem nicht wirklich einen Hinweis darauf gibt, dass so etwas einen erwarten könnte – und es gibt viele Menschen, die in Buchläden mal eben in die ersten paar Seiten hineinlesen. Hier sehe ich Nachbesserungsbedarf.
Die Themen sind sofort auf dem Tisch: Maddalena, die Unangepasste, wird mit vielen ausgrenzenden Attributen belegt: Malnata, die Unheilbringende, die Hexe, die dir den Tod einhaucht – was sonst soll man auch zu einem Mädchen sagen, dass große Verbrechen begeht: Die Beine zeigen, mit Jungs abhängen, am Fluss spielen, einfach weil sie es will, nicht in die Kirche gehen, mutig sein, sagen, was sie denkt, Kirschen klauen, wenn man sie nicht bezahlen kann, Menschen in die Augen sehen. Es ist eine Welt, in der Jesus und Gott alles sehen und Kinder mit dem Glauben aufwachsen, bloß keine Fehler machen zu dürfen. Nicht nur die Mädchen. Auch die Jungs. Die werden tendenziell eher verprügelt, Mädchen wird neben den Schlägen noch das Gefühl von Scham und Schande eingebleut. Und auch wenn die Geschichte in Monza in der Lombardei spielt, eine Stadt, die deutlich größer ist, als sie sich im Buch anfühlt, so sind viele Reste dieses Denkens genau so auch heute noch immer im gesellschaftlichen Denken überall vorhanden. „Die Welt bestand aus Regeln, die man nicht übertreten durfte.“ Daran hat sich nichts geändert, manchmal denke ich fast, es ist auf eine perfide Art schlimmer geworden, weil die Regeln gläsern geworden sind: Nicht mehr zu sehen, aber doch vorhanden, und trittst du hindurch, dann läufst du auf Scherben. Bedrückend fand ich zu lesen, wie die Ich-Erzählerin sich durch ihren Bruder so sehr verdrängt fühlt, dass sie keine Trauer empfindet, als er stirbt, sondern nur Erleichterung. Eingeengt in eine Welt, in der sie zwar irgendwie behütet aber auch sehr eingesperrt aufwächst, ist es bedrohlich, ihr bei ihren ersten Schritten in die Freiheit mit Maddalena zuzuschauen, da schon klar ist: Dafür wird sie bezahlen. Die bildgewaltige Sprache der Autorin und ihr atmosphärischer Schreibstil ziehen die lesende Person intensiv in die beschriebene Welt.
Im weiteren Verlauf übernehmen Faschismus und Katholizismus eine immer tragendere Rolle, das Leben der beteiligten Menschen spitzt sich immer weiter zu und die Charaktere kreisen schwerpunktmäßig viel um sich selbst, was nicht unbedingt zu Empathie führt – nicht bei ihnen und auch nicht bei mir als Leserin. Auch wenn sehr deutlich wird, woher die Wunden und Verhaltensmuster kommen – so ist doch nicht immer nachvollziehbar, warum die Figuren nicht den Schritt schaffen, sich anders als gewaltvoll zu verhalten. Es ist eine Welt der Sublimation, die hier beschrieben wird, schriftstellerisch durchgehend brillant, vom Plot her zunehmend leider konstruiert. So geht dem Buch für mich, nach einer starken, sehr berührenden ersten Hälfte im letzten Drittel leider etwas die Luft aus. Dennoch wird einem die beschriebene Zeit so lebendig nahgebracht und ein so starkes Bild über Menschen gezeichnet, die alle in Ideologie feststecken und sich nicht aus diesem Gefängnis befreien können, dass ich nur ans Herz legen kann, sich diesem Buch auszusetzen. Identität hat auch viel mit Zuschreibungen zu tun. Indirekt ist „Malnata“ ein großes Plädoyer, genauer hinzusehen und darauf zu achten, welchen Blick wir auf die Welt richten. „Worte sind gefährlich, wenn man sie gedankenlos ausspricht.“
Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!