Wider das Vergessen
In ihrem neuen und wie gewohnt mit wunderbarer Sprache geschriebenen Roman erzählt Brigitte Riebe die bewegende Geschichte von Eva Auberlin, die mit ihrer Tochter Marlene nach dem Zweiten Weltkrieg und ...
In ihrem neuen und wie gewohnt mit wunderbarer Sprache geschriebenen Roman erzählt Brigitte Riebe die bewegende Geschichte von Eva Auberlin, die mit ihrer Tochter Marlene nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung aus ihrer Heimatstadt Reichenberg im Sudetenland und der folgenden gefahrvollen Odyssee eine neue Heimat am Bodensee findet.
Aber es ist gleichzeitig die Geschichte von Evas Enkeltochter Nane, die nach der Beerdigung ihrer Großmutter deren Aufzeichnungen liest, womit der Leser sich auf eine zweite Handlungsebene begibt, denn in dieser hält sie die Stationen ihres Lebens fest und enthüllt ein Geheimnis, das nicht nur das Leben ihrer Nachkommen, der Auberlin-Frauen, zu denen auch Nanes unkonventionelle Mutter Viktoria gehört, aufrüttelt und in neue Bahnen lenken wird!
Brigitte Riebe nimmt sich eines weitgehend unbekannten Kapitels der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte an, zu dem es längst nicht so viele Augenzeugenberichte zu geben scheint, wie zu anderen schweren Themen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen beziehen!
Flucht aus Ostpreußen? Das kennt man, nicht zuletzt durch die Bücher der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff! Aber kaum jemand schreibt über die Vertreibung der Sudetendeutschen, die nach dem verlorenen Krieg als Deutsche nicht mehr in dem Land bleiben durften, das ihnen und ihren Vorfahren längst Heimat geworden war.
Die Autorin lässt Eva stellvertretend für all jene Sudetendeutsche ihre Geschichte erzählen, die Unsägliches erleiden mussten und denen das neue Heimatland lange keine Heimat werden konnte, da sie mit Misstrauen und Abneigung von den Einheimischen der jeweiligen Orte und Regionen, in denen sie sich niederließen, beäugt wurden.
Die Roman-Eva hatte Glück! Durch Zufall und Glück konnte sie ihre Kenntnisse und Begabungen, das Schnapsbrennen nämlich, das sie von ihrem Vater, einem Apotheker, gelernt hatte, dank der Heirat mit Toni Auberlin erfolgreich einsetzen und es zu Wohlstand und Anerkennung bringen. Mit Abstrichen kann man wohl von gelungener Integration sprechen!
Doch lernt der Leser nach und nach eine ganz andere Eva kennen, eine, die Geheimnisse hütet, die womöglich Schuld auf sich geladen hat, die alles in allem so facettenreich ist, wie nur Brigitte Riebe selbst sie ersinnen kann.
Das Gleiche gilt auch für die übrigen Akteure, allen voran Marlene und Nane. Gerade Marlene gibt Rätsel auf, sie ist hart und weich zugleich, schroff und dennoch liebevoll, verschlossen und dann wieder erstaunlich offen. Sie ist gewiss jemand, der polarisiert, dem die Herzen nicht so schnell zufliegen können, wie das vielleicht bei der jungen, anfangs so verlorenen Nane der Fall ist, die die Autorin eine Entwicklung durchlaufen lässt, die in ihrer Glaubhaftigkeit überzeugt.
Wie immer auch lässt Brigitte Riebe eine Reihe von spannenden, anrührenden, aber auch ärgerlichen und wenig einnehmenden Nebenfiguren auftreten, die mit den vier Auberlin-Frauen auf die eine oder andere Weise verknüpft sind und die der bedrückenden und gleichzeitig hoffnunggebenden Geschichte eine gewisse Leichtigkeit und jedenfalls einen besonderen Charme verleihen, dem sich der Leser nicht entziehen kann.
Streckenweise schwer zu ertragen sind die Rückblicke, ist das, was sich auf der zweiten Handlungsebene ereignet, die zum großen Teil in den Kriegszeiten spielt und das Grauen fühlbar macht, das sich unter der braunen Herrschaft entfaltete!
Da erfährt man von Terror und willkürlichen Morden, von den Repressalien, denen Andersdenkende und -glaubende, denen solche, die die "falsche" Nationalität hatten, ausgesetzt waren, und von der Lebensgefahr, in der die Menschen Tag für Tag schwebten. Und man erfährt von Rache, sei es durch die Nationalsozialisten, die das Dorf Lidice und seine Bewohner nach dem Attentat auf Heydrich vernichteten, oder durch die Tschechen an den deutschstämmigen Mitbürgern in den ersten Nachkriegsmonaten.
Der ganze Horror des Krieges wird in diesem unvergesslichen Roman fühl- und erlebbar, die womöglich dunkelste Zeit unsrer Geschichte wird noch einmal heraufbeschworen - wider das Vergessen!
Denn es gibt Dinge, die niemals vergessen werden, niemals wieder geschehen dürfen. Brigitte Riebe erinnert uns nachdrücklich daran!