Bedrückend, unangenehm, dystopisch — „Vox“ ist zugespitzt, aber dennoch realistisch!
Vermutlich begegnet euch Christina Dalchers „Vox“ aktuell auf vielen Blogs und überall in den sozialen Medien. Dieses Buch wird mit der Message „Der Roman, den jede Frau lesen muss“ geliefert und hat auch ...
Vermutlich begegnet euch Christina Dalchers „Vox“ aktuell auf vielen Blogs und überall in den sozialen Medien. Dieses Buch wird mit der Message „Der Roman, den jede Frau lesen muss“ geliefert und hat auch mich neugierig gemacht. Das Setting ist ein Amerika in nicht allzu ferner Zeit, in der Frauen Wortzähler um die Handgelenke haben, die exakt 100 Wörter pro Tag erlauben. Alles, was über diese 100 Wörter hinaus gesprochen wird, wird mit Stromschlägen bestraft. Die Frauen sollen dadurch gefügig gemacht werden und durch diese Art der Züchtigung auch lernen, keine Kritik am System zu üben. In Dalchers Zukunftsvision haben Frauen zudem ihren festen Platz im Haushalt, bevorzugt in der Küche, wo sie sich um das leibliche Wohl ihrer Familie kümmern. Kindern wird bereits in der Schule ein verzerrtes Bild indoktriniert, in dem die Frau nichts zu sagen hat. Und warum sollte sie auch sprechen? Es stehen sowieso nur 100 Wörter zur Verfügung. In diese Welt wird Jean katapultiert, nachdem sie ungläubig das politische Geschehen im Fernsehen verfolgt. Nach und nach verschwinden die Frauen aus den Reihen der Regierenden und Meinungsgeber, nach und nach etabliert sich ein System, bei dem niemand damit gerechnet hätte, dass „die“ damit durchkommen. Die, das sind all die bösen männlichen Politiker, die Frauen wieder an den Herd verbannen möchten. Die einzige Frau, die sich gegen diese Veränderungen aufzulehnen scheint, ist Jeans Uni-Freundin Jackie, die in Talkshows auftritt, in Debatten für das Recht der Frauen protestiert, mit aller Macht dagegen ankämpft. Doch eine Frau reicht leider nicht aus, um diesen Irrsinn zu stoppen, und so geschieht, was viele nicht sehen wollten: Ein totalitärer Staat entsteht.
"Ich habe wohl nicht geglaubt, dass es passieren würde. Keine von uns."
Christina Dalcher legt mit „Vox“ einen erschütternden Roman vor, der stellenweise mehr Thriller als Gesellschaftskritik ist. Und das Buch ist tatsächlich so wichtig, wie seine Marketingkampagne uns mitteilt: Durch Trumps Position in den USA werden die Stimmen aus dem Bible Belt, die früher vielleicht als hinterwäldlerisch verschrien worden wären, immer lauter. Frauen gehören an den Herd und sollen am besten schon früh verheiratet werden, so tönt es aus dem Süden, und mir rollen sich da wie vermutlich jedem von uns die Zehennägel hoch. Dalcher hat diese Vision überspitzt wahr werden lassen und unsere Protagonistin Jean zusammen mit ihrer Familie mitten in den Wahnsinn geschmissen. Während ihr Mann seinen alten Job ausführen darf, darf Wissenschaftlerin Jean brav das Haus schrubben. Ihr Sohn Steven blüht unter der grenzwertigen Schulbildung nahezu auf und bringt spannende Weisheiten mit nach Hause, wie beispielsweise die „Tatsache“, dass Männer und Frauen bereits rein biologisch dazu ausgelegt sind, für bestimmte Dinge geeignet zu sein. Steven entwickelt sich unter der „kulturellen“ Erziehung innerhalb der Schule mehr und mehr zu einem Monster, dem nicht nur Jean eine zimmern möchte. Jeans Tochter Sonia hingegen verkümmert. Sie spricht freiwillig kaum bis gar nicht und nachdem sie gesehen hat, wozu die Armbänder fähig sind, ist ihr junges Leben stets von Angst diktiert. Während die Autorin sich also reichlich Zeit für die Kinder Jeans nimmt, wirken sie und ihr Mann fast schon leblos, wie Marionetten. Auch Jeans Affäre scheint irgendwie nur den Sinn zu erfüllen, dass in Jean der Wunsch auszubrechen erweckt wird. Das finde ich richtig schade! Gerade Jean, die in die Fußstapfen von Winston Smith (1984) und Bernard Marx (Brave New World) tritt, sollte etwas runder dargestellt werden. Dennoch ist „Vox“ sehr spannend zu lesen, man fliegt förmlich durch die Seiten. Besonders, als Jean aufgrund eines Schlaganfalls des Präsidenten (oder war es jemand anders?) nämlich ihren Job unter verschärften Bedingungen wieder ausüben darf, um ein Heilmittel für die beschädigten Hirnzellen, die das Sprachzentrum angreifen, zu entwickeln…
Die vollständige Rezension findet ihr auf meinem Blog: https://killmonotony.de/rezension/100woerter-christina-dalchers-vox