Mantel- und Degenroman in Reinstkultur
Das Buch ist sehr spannend geschrieben, erinnert auch stark an den Stil der Mantel und Degen Romane des 19 Jahrhunderts und in denen Alexandre Dumas der Ältere exzellierte. Ich begrüße es, dass Dirk Husemann ...
Das Buch ist sehr spannend geschrieben, erinnert auch stark an den Stil der Mantel und Degen Romane des 19 Jahrhunderts und in denen Alexandre Dumas der Ältere exzellierte. Ich begrüße es, dass Dirk Husemann sich dieses Stils bedient. Er ist sehr angemessen dem Thema des Buches.
Mein erster Eindruck von Alexandre Dumas sen. ist, dass er ein typischer ADHS-Mensch ist. Ein Hans Dampf in allen Gassen, der ständig herumlaviert und vor Gläubigern oder verflossenen Geliebten auf der Flucht ist. Heute würde man ihm Ritalin verschreiben. Die ersten Seiten, in denen er agiert, haben mich beunruhigt. Alexandre Dumas ist einer der Lieblingsautoren meiner Kindheit gewesen. Und nun soll er gar nicht die Drei Musketiere, den Graf von Monte Christo, La Reine Margot, den Vicomte de Bragelonne, die Memoiren eines Arztes und noch einige mehr geschrieben haben??? Ich las alles von ihm was ich damals in die Finger bekam. Und nun hat er das alles, diese ganze Pracht, diesen unglaublichen Ideenreichtum gar nicht alles selbst verfasst?
Ich wusste von großen Malern der italienischen und niederländischen Renaissance, dass sie oft an bestimmten Auftragswerken höchstens die Komposition bestimmten und ein paar Pinselstriche machten, das Gemälde dann aber teuer verkauften. Heute werden diese Bilder als „aus der Werkstatt von…“ immer noch teuer gehandelt, aber doch mit einigen Abschlägen. Konnte sich halt nicht jeder einen Raffael da Urbino leisten.
Dass Karl May nicht selbst all die Heldentaten vollbracht hat, als Old Shatterhand oder als Kara Ben Nemsi, das habe ich ihm längst verziehen. Aber Alexandre Dumas? Muss ich ihn jetzt auch vom Sockel stoßen? Das tut weh.
Zu Anna Moll, Gräfin Dorn und ihr Diener und Begleiter, der Kutscher Immanuel: Immanuel ist fast die ganze Zeit stumm, aber immer da, um Anna zu beschützen, zu unterstützen, ihr weiter zu helfen. Bis er einen grässlichen Unfall hat und mit gebrochenen Beinen ins Krankenhaus eingeliefert wird. Anna ist einerseits sehr prüde und urteilt über Dumas Schriften sie seien jugendgefährdend und unmoralisch. Deswegen versucht sie mit der Zensurbehörde seinen Veröffentlichungen ein Ende zu bereiten. Geht natürlich schief. Aber als in Dumas Zeitschrift plötzlich subversive Artikel erscheinen, die Dumas nicht autorisiert hat und ein Minister tot aufgefunden wird, der zuletzt mit Dumas lebend gesehen wurde, werden aus Anna und Alexandre Verbündete. Sie haben einen gemeinsamen Feind, deswegen diese ungewöhnliche Partnerschaft.
Die Aventiure geht weiter in dieser neuen Konstellation. Und genau wie in einem echten Mantel und Degen Roman aus dem 19. Jahrhundert tauchen erneut Gestalten auf, von denen man im ersten Teil eigentlich schon gedanklich Abschied genommen hatte, so z.B. Anna Molls früherer Arbeitgeber der Lübecker Fischhändler Olaf Schmaleur. Er wird zum Retter in der Not in einer schier ausweglosen Situation, regelt alles selbstlos, einfach, diskret und unkompliziert. Solche Wohltäter die plötzlich aus dem Dunkel ins Rampenlicht treten nur um nach getaner Arbeit wieder zu verschwinden sind eines der Merkmale dieser Romane. Ebenso ist Doctor Bailey, der Leierkastenmann solch ein Helfer in der Not. Er hilft Anna der engen Menschenmenge zu entkommen und verschafft ihr auch Zugang zum Buckingham Palace, verhilft ihr und Alexandre zur Flucht vor dem Newgate Gefängnis.
Ein anderes Merkmal dieses literarischen Genres ist der Bösewicht, der derart böse, schurkisch und verkommen ist, dass man es kaum noch aushält. Jedes Mal, wenn die „Guten“ versuchen, dem Bösewicht das Handwerk zu legen, entkommt dieser auf spektakuläre Weise und hinterlässt Chaos. Lemaitre ist der Schurke schlechthin. In seiner Gier nach Reichtum und Macht geht er über Leichen, im wahrsten Sinne des Wortes, hypnotisiert die Menschen, um an ihr Wissen und vor allem ihre Geheimnisse heran zu kommen, die er dann gnadenlos ausbeutet und die Menschen erpresst. Er nimmt billigend den Tod von Menschen in Kauf, die ihm nützlich waren und die er nun nicht mehr brauchen kann. Einerseits wünscht man, dass der Bösewicht endlich gefasst wird, andererseits lebt aber der Roman von diesem Übeltäter. Würde er handlungsunfähig gemacht werden, wäre auch der Roman zu Ende, und das wollen wir nun wirklich nicht.
Ein weiteres typisches Merkmal der Mantel- und Degenromane sind die „Coups de Théâtre“, der plötzliche Umschwung. Aus Feinden werden Verbündete, unerwartete Wendungen, die die Handlung in eine neue Richtung bringen, usw. Anna, die nach Paris kam, um Alexandre Dumas am Schreiben zu verhindern, weil sein „Schreibwerk“ unmoralisch und Jugendgefährdend ist, liest nun selbst dem Erbprinzen Albert aus den drei Musketieren vor und verfasst zusammen mit dem Autor eine Fortsetzung der Abenteuer D’Artagnans, extra für den Prinzen. Wobei man im britischen Königshaus gerade nicht gut auf Alexandre Dumas zu sprechen ist und seine Hinrichtung im Newgate-Gefängnis schon beschlossene Sache ist. Die Falle, die Gräfin Anna und Lady Alice Lemaitre stellen, im Wintergarten des Königspalastes, klappt nicht zu, Lemaitre kann entkommen. In letzter Sekunde. Und der nächste Theaterschlag passiert auch im letzten Augenblick: Im Newgate Gefängnis, Alexandre Dumas hat schon seine Henkersmahlzeit hinter sich und überredet einen Priester, die Bibel umzuschreiben, kann Anna endlich die Begnadigung einreichen, sehr zum Unmut des Gefängnisdirektors, Lord Dingby.
Der Wortwitz und die Situationskomik in der Gefängniszelle sind umwerfend: der Priester kommt, um ihm die letzten Weihen zu erteilen, aber er ist etwas in Eile, weil er einen vollen Zeitplan at. Da kann er nicht viel Zeit für einen Todeskandidaten erübrigen. Aber das sieht unser Held ganz anders. Außerdem, das „Wort Gottes“, tja, da hat er eine ganz andere Meinung dazu: „Alexandre hatte Gott schon immer für einen lausigen Schriftsteller gehalten. Einen der eine Art Romanfabrik mit vier Evangelisten an den Schreibtischen unterhielt, dessen Dramaturgie aber so hölzern war wie die des schlimmsten Fabelhans aus der Académie Francaise“. (Seite 324). Diese Szene muss man versuchen, sich bildlich vorzustellen.
Und nun beginnt die Reise nach St. Petersburg, wo sich das dritte Amulett befindet. Lady Alice, die dank Lemaitres Intrige nicht mehr in England bleiben kann, begleitet Gräfin Dorn und Dumas auf der Reise. Und in St. Petersburg taucht – oh Wunder, welches keines mehr ist, weil Mantel- und Degenromane voller solcher Zufälle sind – ein alter Bekannter wieder auf: Der Kaufmann Schuwalow, den Alexandre und Anna aus Brüssel schon zu unterschiedlichen Gelegenheiten kennen gelernt hatten. In der Eremitage treffen sich alle Kontrahenten wieder: Lemaitre, dessen wahre Identität und Gesicht nun entlarvt werden, einerseits und andererseits Alexandre Dumas, Lady Alice und Gräfin Dorn. Natürlich gelingt es Lemaitre erneut zu entkommen, ganz spektakulär, und der Leser muss schon befürchten, dass Lemaitre nicht von Menschenhand zu fassen sein wird. Und das stimmt auch. Ganz im Sinne der Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts wird Lemaitre von einer höheren Gewalt bestraft und gerichtet. Das Gute daran: An den Händen der Helden haftet kein Blut. Sonst wären sie auch nicht richtige Helden.
Und noch ein Merkmal der Mantel- und Degenromane, dieses Mal ein schönes Merkmal: Am Ende wird alles gut. (OK, Hollywoodfilme enden auch so), aber hier findet wirklich jeder Topf seinen Deckel und alles wird wirklich gut. Ist das nicht schön?