Der Rione - ein trostloser und ärmlicher Vorort von Neapel in den Fünfzigerjahren, nicht dazu angetan, irgend jemandem Perspektiven zu eröffnen. Hier wachsen die Freundinnen Elena und Lila auf. Lila ist hochbegabt. Ein Wunderkind. Die ebenfalls begabte Elena versucht verzweifelt, mit der Genialität ihrer Freundin zu konkurrieren.
Ich widmete mich dem Lernen und vielen anderen schwierigen Dingen, die mir fernlagen, nur um mit diesem schrecklichen, strahlenden Mädchen Schritt halten zu können. Strahlend war Lila für mich. Für alle anderen Schüler war sie nur schrecklich.
Den Mädchen wird früh beigebracht, dass das Leben nichts als ein Wettbewerb ist. Lehrer benutzen die intelligenten Schülerinnen, um sich miteinander zu duellieren; andere Schüler rächen sich an den Mädchen für diese hoffnungslos unpädagogischen Maßnahmen. Lila und Elena sind Arbeiterkinder wie sie im Buche stehen, und dazu Mädchen. Obschon die Klassenbesten, haben sie kaum eine Chance. Die hochbegabte Lila scheitert an den finanziellen Hürden und dem Unwillen ihrer Eltern, ihr eine gute Bildung zu ermöglichen, die kluge und fleißige Elena immer wieder an dem gnadenlosen Wettbewerb und an dem unerfüllbaren Anspruch, die Beste sein zu müssen. Aber da ist noch etwas anderes. Die Freundschaft zu der außergewöhnlichen Lila stachelt sie oft zu gigantischen Fleißanstrengungen an, dann nimmt sie ihr plötzlich wieder sämtlichen Wind aus den Segeln - es ist die Geschichte einer unheilvollen Abhängigkeit.
Ich wünschte mir, dass sie neugierig wurde, dass sie wenigstens ein bisschen Anteil an meinem Abenteuer nehmen wollte, dass sie das Gefühl hatte, etwas von mir zu verlieren, so wie ich stets Angst hatte, viel von ihr zu verlieren.
Ein erster Schreck durchfährt die unvoreingenommene Leserin anfangs bei Besehen des altertümlich anmutenden Untertitels im Buchinneren: "Kindheit und frühe Jugend" (das wird doch hoffentlich nicht schon wieder einer von diesen in Mode gekommenen Fortsetzungsromanen sein), eine Seite weiter stößt sie auf eine Erklärung, dass Personen und Handlung erfunden sind, freut sich sodann auf der nächsten Seite über das Faust-Zitat aus dem "Prolog im Himmel", stutzt, als noch eine Seite weiter ein Personenregister auftaucht, als hätte es gerade auch ein "Vorspiel auf dem Theater" gegeben, und stöhnt, als sie entdeckt, dass sich dieses über Seiten fortsetzt. Da sie aber, bevor sie Anlass zum Stöhnen hatte, zunächst brav die Personen der ersten Seite studiert hat, ist ihr bereits aufgefallen, dass eine der Protagonistinnen mit der Autorin den Vornamen teilt, so dass der Anfangsvermerk bereits einen Sinn ergibt und Schlüsse auf das noch zu erforschende Geschehen zulässt. Schlussendlich, in der Hoffnung, dass sie die Fülle der Personen nicht überfluten wird, stürzt sich die Leserin mutig in das Buchstabenmeer. Aber schon auf der ersten Seite des ersten Kapitels gerät sie in einen Gewissenskonflikt: wird sich ihr auf den nächsten Seiten von alleine erschließen, wer Rino ist, oder erwartet die Autorin, dass sie vorne nachschlägt? - Ehrlich gesagt, zu nichts habe ich gerade weniger Lust ... Ich entschließe mich, dem Buch eine echte Chance zu geben und keine Namen nachzuschlagen. Wenn es wirklich ein gutes Buch ist, dann muss es auch ohne das gehen. Und tatsächlich - das Vorhaben gelingt. Ich habe dieses theatralische Personenverzeichnis seitdem keines Blickes mehr gewürdigt und kam trotzdem prima zurecht. Vielleicht wollte die Autorin all den Lesern gleich den Wind aus den Segeln nehmen, die sich immer über eine zu unübersichtliche Personenvielfalt in Romanen beschweren: bitteschön, kein Problem, ihr könnt jederzeit nachschlagen! ... Oder sie wollte, auch dies ein selten angewandter Kniff anspruchsvoller Autoren, allzu unbedarfte Leser von vornherein abschütteln ...
Sprachlich zieht die Erzählung sofort in den Bann. Auch wenn sie sich manchmal wie ein böser Albtraum liest. Es tut oft weh, zu sehen, wie egoistische Gedankengänge und Verhaltensweisen schonungslos offen beschrieben, aber niemals in Frage gestellt werden, fast, als ob sie ganz und gar unschuldig wären.
"Du siehst wirklich gut aus, das ist die Zufriedenheit, die dir die Schule verschafft, das ist die Liebe", sagte Lila, und ich spürte, dass sie in wenig traurig war.
Warum zelebriert das Buch diese Ausweglosigkeit, diesen Fluch, der anscheinend auf jedem sogenannten "Wunderkind" ruht, diesen ständigen egoistischen Vorwurf der normal begabten Umwelt, die sich im Angesicht des Genialen als minderwertig empfindet, weil sie nie gelernt hat, sich selbst zu lieben? Traurig ist es, dass offenbar weder Elena noch Lila auf diesem Gebiet irgendetwas dazulernen. Und schon wieder diese Vergleiche, immer diese Vergleiche! Elena wird höhergestuft als ihre Freundin und freut sich. Sie wird niedriger gestuft und ist verzweifelt. Hat das denn nie ein Ende? Sind wir Menschen wirklich so armselig, dass wir ständig nach dem Punkt suchen, an welchem wir sagen können, ich bin besser, und daraus unser ganzes Selbstwertgefühl ziehen? Oder gelingt es doch einer der beiden Freundinnen, irgendwann aus diesem Teufelskreis auszubrechen?
Es ist ein ehrliches und schonungsloses Buch, die dramatisch unspektakuläre Geschichte einer trostlosen Kindheit und Jugend. Und genial wie ihr Titelbild. Auch wenn mir die Quintessenz dieser Geschichte nicht gefällt. Überhaupt nicht. Trotzdem gebe ich die fünf Sterne. Weil es gar nicht anders geht.
Es gibt also tatsächlich eine Fortsetzung. Das blieb bei dem Hype, der nicht ganz zu unrecht um dieses Buch gemacht wird, nicht verborgen. Nur gut, dass ich das Lesezeichen nicht früher entdeckt habe. Es ist sehr hübsch. Und sehr deplatziert ...
Wer von beiden ist nun eigentlich die geniale Freundin?