Beziehungen
Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so ...
Verlassen haben mich die so durch und durch britisch anmutenden Kriminalromane um die beiden Protagonisten Thomas Lynley und Barbara Havers, geschrieben von der waschechten, in Ohio geborenen und im so unbritischen Kalifornien aufgewachsenen Amerikanerin Elizabeth George in den vergangenen 33 Jahren nie. Von Zeit zu Zeit brachte sie einen weiteren Lynley/Havers-Band auf den Markt, in den ersten Jahren voller Spannung erwartet – aber irgendwann wurde George eher eine mir selbst auferlegte Pflichtlektüre, gelesen mehr aus Treue zu den beiden Protagonisten und als Tribut an die ungewöhnlichen, tiefschürfenden, immer spannenden, oft erschütternden, hervorragend aufgebauten und gekonnt erzählten Geschichten, mit denen mich die ersten acht Bände immer wieder aufs Neue zu begeistern wussten. Nun, die Krimis wurden mit der Zeit schwächer, leider auch wesentlich umfangreicher, dadurch geschwätziger, auf jeden Fall langatmig bis schließlich regelrecht langweilig. Das freilich geschieht nicht selten, wenn man eine erfolgreich begonnene Buchreihe endlos in die Länge zieht, anstatt sie auf dem Höhepunkt auslaufen zu lassen!
Nachdem der bislang letzte, bereits der 21. Band der Serie, für mich eine einzige ärgerliche Enttäuschung war, ist es nun an der Zeit, Lynley und Havers in Frieden ziehen zu lassen, was immer auch die Autorin ihnen noch zugedacht hat – und stattdessen, schon um der langjährigen Freundschaft willen, die mich mit dem ungleichen Detektivgespann verbindet, die frühen Kriminalromane der Elizabeth George wiederzulesen, unbedingt aber diejenigen, die mich noch über die Maßen fesselten, beginnend mit dem allerersten (wiewohl man mit Band 4 feststellen wird, dass er eigentlich der zweite Band ist), nunmehr hier zu besprechenden Buch, „A Great Deliverance“ (deutscher Titel „Gott schütze dieses Haus“), der mich beim erneuten Lesen nicht weniger gefangennahm, nicht weniger beeindruckte, als damals, 1989.
Ja, den einen oder anderen Kritikpunkt gibt es wohl, ein antiquiertes Setting selbstredend, ein Hintergrund, den man heute so nicht mehr in Romane einbauen würde - was aber nicht ins Gewicht fällt, denn in sein Erscheinungsjahr passt dies allemal! Aber auch gewisse Längen waren nicht zu übersehen, unnötige Detailverliebtheit, die freilich in den späteren Bänden viel prononcierter sind, und mir wahrscheinlich nur deshalb auch hier in diesem so starken Roman aufgefallen sind. Dem Gesamtbild tun sie jedoch noch keinen Abbruch. Genauso wenig wie ad absurdum getriebene Stereotypen, wenn es um zwei unausstehliche und völlig überflüssige, außer einer einzigen Aussage, die auch von anderer Seite hätte kommen können, nichts zur Fortführung der Handlung beitragende amerikanische Nebenfiguren geht, über die ich letztlich hinwegsehen kann, denn die hervorragenden Charakterisierungen der Hauptfiguren wie auch der meisten Nebenpersonen, ihr Verhältnis zueinander, ihre Entwicklung und Verflechtung untereinander und mit dem gar grausigen Mordfallall, der im Mittelpunkt der Handlung steht, lassen alle kleineren Makel in den Hintergrund treten. Vielschichtig sind sie, alles andere als eindimensional – und auch wenn der adlige Scotland Yard-Inspector Thomas Lynley ein so tadelloser wie typischer britischer Gentleman ist, so ist er, von seinen inneren Dämonen geplagt, die sich dem Leser langsam offenbaren, alles andere als der vom Leben verwöhnte, der strahlende und siegreiche Held, als den ihn die ihm zur Seite gestellte ruppige und verbitterte, wegen ihrer Unfähigkeit und ihres Unwillens zur Zusammenarbeit mit ihren Kollegen zum Streifendienst degradierte Barbara Havers gerne sehen und gerade deshalb verachten möchte.
Die sperrige Kollegin mit dem massiven Minderwertigkeitskomplex und einem Bündel familiärer Sorgen, das sie um jeden Preis unter Verschluss halten möchte, wird im Laufe der schwierigen Ermittlungen, die sie mit dem 8. Earl of Asherton, alias Thomas – Tommy – Lynley, im ländlichen Yorkshire anzustellen gezwungen ist, eines Besseren belehrt werden, zu ihrer größten Verwirrung den unbändigen Hass auf ihn und alles, was er verkörpert, nicht aufrechterhalten können, je näher sie den sehr menschlichen, mitfühlenden und verständnisvollen Inspektor kennenlernt. Und was sie selbst betrifft, so wird auch der Blick des Lesers auf sie am Ende nicht mehr der sein, den er vielleicht am Anfang gehabt hatte!
Ja, um Beziehungen vor allem geht es in „A Great Deliverance“, mehr als in jedem anderen der Folgebände, um die Beziehung zwischen den beiden Polizisten, privaten, von leidenschaftlichen wie schmerzvollen Gefühlen geprägten Beziehungen des Inspektors zu seinen Freunden Simon St. James, dessen Frau Deborah und der bezaubernden Lady Helen, mit denen ihn eine tiefe, durchaus schuldbehaftete und spannungsreiche Freundschaft verbindet und die auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden in dem von Elizabeth George ersonnenen Universum. Von den nur langsam sichtbar werdenden Beziehungen der Bewohner des kleinen Ortes Keldale in den Yorkshire Moors, in dem sich das zunächst so eindeutig erscheinende, aber je tiefer Lynley und Havers bohren, immer mehr Fragen aufwerfende Verbrechen ereignet hat, erfährt der Leser, Beziehungen, deren Bande Lügen, Geheimnisse und Versagen sind. Schließlich aber geht es, auf schreckliche Weise, um die Beziehung zwischen dem enthaupteten Opfer William Teys und seiner Tochter, der unförmigen, von allen bemitleideten, aber schmählich, schamvoll und feige von allen im Stich und mit ihren Nöten völlig allein gelassenen Roberta, die sich zu dem Mord an ihrem allseits geachteten Vater bekennt und danach in undurchdringliches Schweigen verfällt, bis gegen Ende der Geschichte und dann in einer unvergesslichen, intensiven, den Leser bis ins Mark erschütternden Szene die Mauern einstürzen und nur Ruinen und verbrannte Erde zurücklassen. Sich allmählich enthüllende düstere, gar finstere und unbedingt erschröckliche Familiengeheimnisse decken weitere unerwartete Beziehungen auf, die den Leser entsetzt innehalten lassen und bei dem einen oder anderen die Frage aufkommen lassen mögen, ob gewisse Morde oder Tötungen wirklich strafrechtlich geahndet werden sollten...
Doch genug an dieser Stelle! Wer einen wirklich guten, klug und anspruchsvoll geschriebenen Kriminalroman, dem ich unbedingt das Attribut „literarisch“ zueignen möchte, zu schätzen weiß, wird mit Elizabeth Georges preisgekröntem Erstlingswerk auf seine Kosten kommen. Garantiert!