Vita brevis, ars longa?
Anna (24) stammt aus einfachen Verhältnissen. Um als Studentin in London zu überleben, jobbt sie in einer Jazzkneipe; naheliegend, wenn man bedenkt, dass sie Gesang studiert. Eines Tages trifft ...
Anna (24) stammt aus einfachen Verhältnissen. Um als Studentin in London zu überleben, jobbt sie in einer Jazzkneipe; naheliegend, wenn man bedenkt, dass sie Gesang studiert. Eines Tages trifft sie in ihrem Nebenjob auf Max, einen Banker, der natürlich eine Ecke älter ist. Anna lässt sich auf eine Art Beziehung mit ihm ein, doch es herrscht ein ökonomisches Ungleichgewicht. Eigentlich ist die Oper die große Liebe der Protagonistin. Mit ihrer besten Freundin Laurie kann Anna über alles reden, feministische Idealvorstellungen treffen auf die harte Realität. Wird Anna ihre Ziele erreichen?
Als Leser/in verfolgt man das Geschehen aus Annas Perspektive, man taucht in ihr Gefühls- und Gedankenuniversum ein. Besonders faszinierend fand ich die Welt der Oper, dieser Aspekt des Romans war für mich neu und aufregend. Der Kampf einer Vertreterin der Arbeiterklasse ist mir jedoch vertraut, viele Leser mögen dieses Detail exotisch finden. Auch der Konkurrenzdruck im Studium an sich ist kein Alleinstellungsmerkmal der Geschichte.
„Unser wirkliches Leben“ von Imogen Crimp besteht formal aus 4 Teilen. Zu Beginn konnte mich die Erzählung fesseln, der Stil ist frisch und modern, auch der Verzicht auf Anführungszeichen trägt dazu bei.
Die Exposition ist wirklich gelungen, ab der Mitte konnte mich das Ganze aber nicht mehr wirklich packen, als Autorin hätte ich die Erzählung stellenweise gestrafft. Im Vorfeld habe ich mir einfach mehr von der Geschichte erhofft.
Eine amour fou, der mögliche Verlust der eigenen Identität, ein älterer, manipulativer Partner, der eine jüngere Frau ausnutzt (oder ist es umgekehrt?): Das kenne ich schon aus Zeruya Shalevs „Liebesleben“. Imogen Crimp setzt natürlich eigene Akzente, ich hatte beim Lesen dennoch ein Déjà-Vu.
Selbstermächtigung durch Sexualität, der weibliche Körper als Instrument (hier im doppelten Wortsinn), masochistische Tendenzen – auch Sally Rooney widmet sich in „Normale Menschen“ diesen Themen, was nicht heißen soll, dass Crimp etwas kopiert. Da sie nach ihrem Studium zeitweise selbst Operngesang an einem Londoner Konservatorium lernte, fand ich die Passagen zum Thema besonders spannend, sie waren mein Highlight.