Noch ist die Kashmir-Saga nicht zu Ende erzählt, doch weht über dem hier zu besprechenden vorletzten Band bereits der Hauch des Abschieds von den beiden Familien, die ich in den letzten Jahren begleiten durfte – den Sandeeps aus Kashmir und den Sharmas aus dem indischen Shivapur – und deren Schicksal mich ungemein bewegt hat, mit denen ich geliebt, gelitten, getrauert, deren glückliche, aber auch schwere und dunkle Stunden, nicht selten voll abgrundtiefer Verzweiflung, ich geteilt habe. Schon bald werde ich sie ziehen lassen müssen, den alten Löwen Vikram mit den sprichwörtlichen neun Leben, von denen er die meisten schon verbraucht hat, seine Frau, die aus Irland stammende Ärztin und Traumatherapeutin mit indischen Wurzeln, Sameera, und ihren treuen Freund Raja, der am Ende dieser Geschichte ebenfalls nach Kashmir gezogen ist, den Vikram Bruder nennt und der sich oft genug als Fels in der Brandung, als Leuchtturm inmitten der tosenden Stürme erwiesen hat, die immer wieder nicht nur über die längst liebgewonnenen Protagonisten und ihre Familien, sondern auch über das märchenhaft schöne Tal im Himalaya, das als Spielball der Mächtigen viel zu viel Leid gesehen hat, hereinbrechen.
Leben bedeutet Veränderung, und es bedeutet auch, Abschied nehmen zu müssen, immer wieder aufs Neue und immer öfter, je länger man auf dieser Welt wandert. Man gewöhnt sich nie daran, immer lässt man einen Teil von sich zurück – doch diese Teile knüpfen ein Band der Erinnerung, das das Gestern mit dem Heute und dem Morgen verbindet, dessen leuchtende Spuren die Jahre überdauern, vielleicht sogar das eigene Erdenleben.
Vikram und die ihm Zugehörigen haben ein solches Band geknüpft, ein Band aus Stahl, um mich eines Buchtitels der Kashmir-Saga zu bedienen. Sie haben durch ihr segensreiches, altruistisches Tun, durch ihr Leben und ihren Einsatz für Frieden, Toleranz und Vorurteilslosigkeit riesige Fußstapfen hinterlassen, unübersehbare Spuren ausgestreut, weithin sichtbar, beileibe nicht von allen mit Wohlwollen betrachtet, sich Feinde geschaffen, die ihnen das Leben schwermachen, die vor nichts Bösem und Perfidem, geradezu Teuflischem zurückschrecken, wie wir auch in 'Flug mit dem Wind' erneut erfahren müssen.
Die beiden Autorinnen, grandiose Märchenspinnerinnen, Märchenweberinnen und Märchenerzählerinnen, wie ich nie müde werde zu betonen, haben ihren Helden nichts geschenkt, nichts erspart, sie immer wieder durch die Hölle gehen lassen, ihnen Narben an Leib und Seele zugefügt, die ihnen für den Rest ihres Lebens bleiben werden. Darüber zu lesen war oft kaum zu ertragen, verband aber den empathischen Leser noch stärker mit den Geschundenen, die das Gute verkörpern, das das Böse besiegt, oft nach langen Kämpfen und geradezu übermenschlicher Leidensfähigkeit - wiewohl auch sie Menschen mit Ecken und Kanten, und, wie man erfahren darf, auch mit Abgründen sind. Noch mal davongekommen, mag man denken, erleichtert, wenn wieder einmal eine Prüfung bestanden war, gleichzeitig aber der nächsten entgegenbangend.
Das ist in Band 6 nicht anders! Auch hier wartet allerlei Ungemach auf Vikram und Sameera, während Raja, dem viel zu oft Geprüften, dem Leiderfahrenen, eine Ruhepause gegönnt wird, wobei er selbstredend nicht nur einmal als Retter in der Not fungiert – eine Rolle, die ihm wie auf den Leib geschneidert ist, die er beherrscht wie kein anderer. An spannenden und überaus emotionalen Szenen steht 'Flug mit dem Wind' seinen Vorgängern in nichts nach! Schwerpunkte verlagern sich zwar – logischerweise, denn die Handlung entwickelt sich wie im Zeitraffer über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren -, Vikram, Sameera und Raja rücken ein wenig aus dem Fokus und machen der jüngeren Generation Platz, den Kindern, viele davon schwer traumatisiert, die im Dar-as-Salam, dem Haus des Friedens, aufwachsen durften, für die die Sandeeps Mutter und Vater sind und Raja als geliebter Onkel verehrt wird.
Aus kleinen Kindern werden große Kinder, und dann ist der Weg ins Erwachsenenleben nicht mehr weit. Eines nach dem anderen verlassen sie das Nest aus Liebe, Fürsorge und großer Menschlichkeit – und nun muss sich zeigen, wie tragfähig die Flügel sind, die ihnen in diesem Paradies mitten in Gewalt und Willkür und ständig lauernden Gefahren gewachsen sind! Ihre Schicksale sind so unterschiedlich, wie die Kinder selbst; die einen gleiten sanft, werden vom Wind getragen, finden ihr Glück – oder glauben, es gefunden zu haben, denn noch ist nicht aller Tage Abend -, die anderen haben Startschwierigkeiten, werden von Schicksalsschlägen heimgesucht, stolpern und fallen, bis sie doch noch, zögerlich zunächst, abheben und ihren Platz finden. Doch alle wissen, dass sie, was immer geschehen mag, aufgefangen werden, dass das Fundament, das ihnen ihre Pflegeeltern geschaffen haben, ein solides ist.
Die Geschichten der Kinder, gleichsam als kleine Porträts eingestreut, die Handlung verbindend, von einem Handlungsstrang zum nächsten weisend, sind wunderschön geschildert, berührend zu lesen – und sie schenken Hoffnung. Denn es braucht Menschen wie diese, denen ganz unverhofft ein neues Leben geschenkt wurde mit ihrem Einzug ins Dar-as-Salam, wo sie erleben durften, dass sie wichtig sind und ihr Leben von Bedeutung ist, dass man sich um sie und dass man für sie sorgt und dass gegenseitige Hilfe und Unterstützung selbstverständlich sind, die eine friedlichere Welt aufbauen können, die aus Krisengebieten wie Kashmir wieder machen könnten, was sie einst waren, Paradiese von gewaltiger Schönheit, in denen Muslime, Christen und Hindus ohne Hass miteinander leben. Man hat ihnen schließlich im Haus des Friedens vorgelebt, wie das geht!
Auf solche Gedanken kann man kommen während der Lektüre dieses mitreißenden, bildgewaltigen Romans, der mit spürbarer Freude, gar Leidenschaft geschrieben ist, mich ganz und gar in seinen Bann gezogen und geradezu verzaubert hat. Er ist, wie die gesamte Kashmir-Saga, nicht nur eine wunderbare Erzählung mit unvergesslichen Charakteren und ein berauschendes Epos, sondern ein einziges und einzigartiges Plädoyer für Freundschaft und für wahre, niemals wankende Menschlichkeit inmitten einer unheilen Welt. Möge seine Botschaft auf fruchtbaren Boden fallen!