Abschied - Krise - Neubeginn
„Es ist mir gleich, ob es ein trauriger oder ein schlimmer Abschied ist, aber wenn ich von wo weggehe, möchte ich auch gerne begreifen, dass ich von da weggehe.“ Dieser Satz aus J.D. Salingers 1945 erschienenen ...
„Es ist mir gleich, ob es ein trauriger oder ein schlimmer Abschied ist, aber wenn ich von wo weggehe, möchte ich auch gerne begreifen, dass ich von da weggehe.“ Dieser Satz aus J.D. Salingers 1945 erschienenen Roman Der Fänger im Roggen dürfte wohl das ganze Buch zusammenfassen, denn die Abschiedsthematik und die daraus resultierenden Krisen, gepaart mit Identitäts- und Sinnsuche, sind die eigentlichen Leitmotive des Romans. Salinger gelingt es trotz jugendlichem Schulabbrecher als Erzähler und entsprechender Jugendsprache, einen Roman mit Allgemeingültigkeit zu konstruieren, der nicht nur Jugendliche in der Selbstfindungsphase bedient, sondern vielmehr als Beitrag zur immerwährenden menschlichen Suche nach Sinn und Bedeutung zu verstehen ist.
Der Anfang ist bereits der einschneidendste Abschied: Holden Caulfield wird aufgrund schlechter Noten eines renommierten Eliteinternats verwiesen und flüchtet aus Angst vor der möglichen Reaktion seiner beruflich erfolgreichen Eltern nach New York, wo er ein ganzes Wochenende lang ziellos und immer auf der Suche nach menschlicher Wärme und Gesellschaft durch die Straßen irrt. Die räumliche Flucht wird zunächst zur Flucht vor dem eigenen Selbst, doch nach und nach gelingt es Holden durch Gespräche mit alten Bekannten, mit seiner Identität in Kontakt zu treten und sich darüber klar zu werden, was er will und was nicht.
Spielerisch gelingt es Salinger, Holden an metaphorisch aufgeladenen Plätzen wie der Grand Central Station, als Sinnbild des Wartens, über seine Zukunft und den Sinn des Lebens im Allgemeinen nachdenken zu lassen. Im Verlauf scheint das Umherirren immer sinnloser zu weden, bis Gespräche mit alten Bekannten schließlich Formen der Dialoge aus Beckets Warten auf Godot annehmen. Warten auf etwas, das nie kommt – So ließe sich letztlich auch eines der letzten Kapitel lesen, in dem Holdens kleine Schwester ihren Bruder zum Bleiben und zum Gespräch mit den Eltern bewegen konnte und Holden gebannt die Kreisbewegung des Karussells verfolgt, auf dem seine Schwester fährt. Welche Lehre soll man als Leser daraus nun ziehen? Dass das Leben sinnlos ist und eine Suche nach einem Sinn es ebenfalls ist? Dass es sich im Kreis dreht, die Geschichte sich immer wiederholt und jeder Mensch im Grunde austauschbar ist? Das lässt Salinger offen und gerade durch diese inhärente Offenheit sowohl in der Deutung als auch im inhaltlichen Ausgang des Romans gewinnt die Erzählung eine solche Allgemeingültigkeit.
Was der Roman uns aber lehrt, was seine Botschaft ist, wird deutlich: Krisen sind notwendig, damit wir zu uns selbst finden. Wer wie Holden Caulfield für eine Zeit lang aus der Welt fällt, nicht recht weiß wo er hingehört und die alten Gewohnheiten beginnen sich aufzulösen, der fragt danach wer er eigentlich wirklich ist und was er vom Leben will.
Es ist die Erzählung eines Abschiedes und eines Neubeginns. Vor allem aber ist es die Erzählung einer nie enden könnenden Suche nach Sinn und Bedeutung, die einem der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse entspricht.
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