Beeindruckendes Politikgenie, umstrittener Staatsmann
Otto von Bismarck ist aus der deutschen Geschichte nicht wegzudenken. Er hat das Wahlrecht eingeführt, er hat die Sozialversicherung durchgesetzt, aber er ist auch wesentlich dafür verantwortlich, dass ...
Otto von Bismarck ist aus der deutschen Geschichte nicht wegzudenken. Er hat das Wahlrecht eingeführt, er hat die Sozialversicherung durchgesetzt, aber er ist auch wesentlich dafür verantwortlich, dass sich der Konservativismus in Deutschland durchsetzte, der Fortschritt aufgehalten wurde und sich die Monarchie verfestigte. Wer war dieser Politiker, der in der deutschen Geschichte mal als Held und mal als Teufel gezeichnet wird, wirklich?
Jonathan Steinberg gelingt mit seiner umfassenden Biographie ein beeindruckendes, sehr facettenreiches Bild dieses umstrittenen Politikers, bei dem sich die Geschichtsschreibung nicht einigen kann. Wie der Autor selber sagt, ist er als Biograf in einer einzigartigen Position: Steinberg stehen unzählige, digitalisierte Dokumente zur Verfügung, die weder von Staatsgrenzen noch von politischen Faktoren limitiert sind und er muss kein bestimmtes politisches Bild bedienen. Das führt dazu, dass er die schwer zu fassende Gestalt Bismarcks auf vielen Ebenen zeigen kann. Als genialen Politiker, als maßlosen Choleriker, als jähzornigen, pubertierend-verwöhnten Junker, als brillanten Taktiker und als gnadenlosen Egozentriker, dem für seine persönlichen Ziele nichts heilig war.
Die Biographie gibt einen umfassenden Einblick in die vielschichtige Persönlichkeit Bismarcks, aber auch in die Welt des 19. Jahrhunderts selbst. Das Junkertum, Preußens Aufstieg, in die vielen kleinen Zufälligkeiten der Geschichte, die den Leser immer wieder vor die Frage „Was wäre gewesen, wenn…?“ stellen. Nicht zuletzt gibt es viele Abschnitte, die gerade auch im Hinblick auf heutige Ereignisse, Gänsehaut verursachen und nachdenklich machen. Dazu kommen gesellschaftliche Ereignissen, die einen schmunzelnd an Soap Operas erinnern mit ihren Liebschaften, Duellen und Spötteleien. Andere ernsthafte Aspekte wie Homosexualität im 19. Jahrhundert geben kulturelle Einblicke, die man in dieser Biografie nicht erwartet hätte.
Wer sich näher mit dem 19. Jahrhundert an sich und Bismarck im speziellen beschäftigen will, sollte unbedingt zu dieser Biografie greifen. Brillant geschrieben, sehr ausgewogen in seiner sachlich-fundierten Art und lesbarem Sachbuch, bekommt der Leser einen umfassenden, sehr differenzierten Blick auf Bismarck und das 19. Jahrhundert selbst. Außerdem wird gezeigt wie viele Grundlagen für die Ereignisse im 20. Jahrhundert hier bereits, unbewusst, gelegt wurden. Beeindruckend, fesselnd und sehr informativ.