Geister der Vergangenheit
Ich muss sorgfältig nachdenken, um tief in mir den Anfang zu finden. Der Schluss geht einem nicht aus dem Kopf, erst recht nicht, wenn man älter wird. Doch den Anfang, den vergisst man, fast wie die Geburt.
Das ...
Ich muss sorgfältig nachdenken, um tief in mir den Anfang zu finden. Der Schluss geht einem nicht aus dem Kopf, erst recht nicht, wenn man älter wird. Doch den Anfang, den vergisst man, fast wie die Geburt.
Das Haus der Bücher und Schatten. Bereits der Titel von Kai Meyers neuem Werk lässt die Gedanken spielen. Der dritte Teil seiner Buchreihe, die sich um Geheimnisse des Graphischen Viertels in Leipzig ranken, wird seinen Vorgängern mehr als gerecht. Die Bücher hängen nicht zusammen, das verbindende Element ist allein der Ort, an dem diese Geschichten ihre Bühne bekommen, sowie die Art ihrer Erzählung. Ein Geheimnis der Vergangenheit findet zurück ans Licht, um Geschehnisse der Gegenwart der handelnden Personen erklären zu können.
In diesem Werk wechselt der Autor zwischen den Jahren 1913 und 1933. Beide Jahre bergen die Vorboten eines neuen Krieges, der die Welt überschatten wird. Brutalität, Ideologien und Furcht prägen beide Jahre und überbrücken die zwanzig Jahre, die sie trennen.
„Falls Sie noch mal Hilfe brauche, dann wissen Sie, wo Sie mich finden“, sagte er. „In der Nacht“, erwiderte sie. „Bei den Büchern“
Im Jahr 1933 wird der Polizist Cornelius beinahe Zeuge eines Doppelmordes, ein Mädchen und ein Polizist. Entgegen der allgemeinen Meinung glaubt er nicht an eine schlichte, einfache Erklärung und beginnt in der Vergangenheit des Mädchens unter die Lupe zu nehmen. Freimaurer, Okkultisten und Séancen haben das Leben des toten Mädchens geprägt, während der Polizist, ein überzeugter Nazi, bei seinen Mitmenschen alles andere als beliebt war. Was verbindet die beiden und was bedeuten die rätselhaften Buchstaben auf der Hand der Toten? Bei seinen Nachforschungen nähert er sich immer mehr den Geheimnissen von gefährlichen Männern, die ihre dunklen Geschäfte im chaotischen Deutschland zur Blüte getrieben haben und kein Interesse daran haben, diese durch einen einfachen Polizisten in die Luft gehen zu lassen.
Zwanzig Jahre zuvor begibt sich Paula zusammen mit ihrem Verlobten und Kollegen Jonathan auf die Reise ins Baltikum, um das Manuskript eines Autors zu holen. Doch in dem gewaltigen Anwesen geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Paula ist überzeugt, dass es spukt. Sie hört Schritte, wo keine Gänge sind und Stimmen, wo keine Menschen sind. Sie beginnt alles zu hinterfragen und stößt auf eine Geschichte, die besser im Verborgenen geblieben wäre.
Ich bin noch immer in diesem Zug, irgendwo zwischen Einsteigen und Endstation.
Die Handlungsstränge beider Geschichten wechseln sich in unregelmäßigen Abständen ab, vertiefen dabei die Spannung und die Neugierde darauf, wie es weitergehen soll und wird. Beide Teile sind geprägt vom Übersinnlichen, von Geistern und Stimmen aus dem Jenseits, von Geheimnissen der Vergangenheit, die nicht ans Licht kommen sollten. Entgegen so vielen seiner anderen Werke benutzt Kai Meyer in diesem Werk zwei Protagonisten und Protagonistinnen, die es mir schwer gemacht haben, sie ins Herz zu schließen.
„Wir beide sind uns zwar begegnet, aber ich habe keine Ahnung, wer du bist“
Cornelius ist ein verbitterter Polizist, der zuerst suspendiert und später wieder eingesetzt wurde, als seinem Arbeitgeber das fähige Personal ausging. Er verachtet den Nationalsozialistischen Staat und macht sich dadurch keine Freunde in der Stadt. Cornelius bevorzugt die Gesellschaft von Büchern deren von Menschen, mit Ausnahme seiner reizenden Verlobten. Er ist ein Einzelgänger, der alles im Alleingang erledigt, der nie um Hilfe fragt oder diese akzeptiert. Am liebsten geht er auf direkte Konfrontation mit seinem Gegenüber und er traut keinem seiner Kollegen über den Weg. Im Laufe des Buches lernte ich ihn zu schätzen, aber es dauerte.
Paula hingegen ist eine faszinierende Frau. Als einzige Lektorin des Verlags werden ihr deutlich größere Steine vor die Füße gelegt, als ihren Kollegen. Sehr zum Ärger von diesen ist sie es, die einen der bedeutendsten Autoren ihrer Zeit entdeckte und zu einem Bestseller machte. Selbst dieser Erfolg lässt die Kritiker nicht zum Schweigen bringen, im Gegenteil: die Eifersucht wird nur weiter angeheizt. Paula ist sehr sensibel und in ihren Träumen erscheinen immer wieder die Geister der Vergangenheit, um sie zu warnen oder ihr etwas mitzuteilen. Trotz ihrer beeindruckenden Geschichte wurde ich bis zum Schluss nicht richtig warm mit ihr. Fast, als würde ein Graben zwischen uns sein, der es ihr nicht ermöglicht, mich zu berühren.
„Das Weltall ist wie eine riesige Bibliothek: Niemand gibt einen Mucks von sich, man streift einfach wortlos von einem Wunder zum nächsten“
Es war eine faszinierende Erfahrung für mich, von einem Buch gefesselt zu sein, mit deren Charakteren ich nicht wirklich warm wurde. Es hat der Geschichte keinen Abbruch getan. Jede einzelne Seite des Buches war eine wunderbare Reise in eine Zeit, die wir nicht erleben wollen und die aktueller scheint als je zuvor in meinem Leben.
„Wenn beide Spieler mit Schwaz spielen, können sie dann ihre Figuren nach den ersten Zügen noch auseinanderhalten? Spielt es überhaupt eine Rolle, wer auf welcher Seite steht? Und geht es dann nicht nur noch darum, alle Figuren vom Feld zu räumen, ohne einen Unterschied zu machen zwischen den eigenen und denen des Gegners?“
„Die beiden Könige können sich nicht gegenseitig schlagen.“ „Aber eine einzelne Königin genügt, um das Spiel zu entscheiden“ „Oder ein einfacher Bauer“
Das Haus der Bücher und Schatten ist ein weiteres faszinierendes Buch von Kai Meyer. Es ist nicht notwendig, die vorherigen Bände des Graphischen Viertels zu lesen, da jedes eigenständig für sich steht, jedes sein eigenes Geheimnis verbirgt. Sein künstlerischer Umgang mit der deutschen Sprache und sein Talent für spannungsgeladene Handlungsbögen machen das Buch zu einem wahren Lesegenuss.
*Diese Stellen wurden direkt aus dem Buch (Auflage 2024) entnommen