Der männliche und der weibliche Blick - Jugend im Kiez
Sie wolle nicht unter dem Label Migrationsliteratur gesehen werden, sagte Karosh Taha in einem Interview. Denn als zwar im nordirakischen Kurdistan geborene, aber im Ruhrgebiet aufgewachsene Schriftstellerin ...
Sie wolle nicht unter dem Label Migrationsliteratur gesehen werden, sagte Karosh Taha in einem Interview. Denn als zwar im nordirakischen Kurdistan geborene, aber im Ruhrgebiet aufgewachsene Schriftstellerin schreibe sie auf Deutsch, spreche Deutsch weitaus besser als Kurdisch. Das hat sie mit ihrer Romanfigur Amal in "Im Bauch der Königin" gemeinsam.
Mit dem Leben zwischen zwei Kulturen, der Migrationserfahrung der Eltern hat aber auch die zweite Generation zu tun, aus deren Sicht das Aufwachsen in einem Kiez irgendwo im Ruhrgebiet geschildert wird. Da haben einige der Freunde und Nachbarn eben noch nicht den deutschen Pass, sondern nur die Duldung, leben mit der Ungewissheit. Da gibt es eben immer noch Werte, die die Community prägen und unterscheiden, Dinge, die der "Alman" in der Clique ungestraft sagen kann, die bei einem Türken oder Kurden tabu wären. Ähnlich wie die "neuen deutschen Medienmacher" gibt es eben auch die neuen deutschen Literaten, die mit ihren ganz unterschiedlichen Erfahren die heutige diverse Gesellschaft beschreiben.
Taha tut das aus einer interessanten Doppelperspektive, indem sie ihre Geschichte über die gleichen Protagonisten aus der weiblichen und aus der männlichen Perspektive erzählt, aus der Sicht von Amal und Raffiq. Amal ist ein Mädchen, das auffällt, das aneckt, wild und mitunter aggressiv. Tomboy, würde man anderswo sagen, ihre Lehrer und Mutter bezeichnen sie als "Mogli-Mädchen". Amal ist ein Vater-Mädchen, bei ihrem Vater fühlt sie sich verstanden. Um so schlimmer für sie, als der Vater die Familie verlässt, um nach Kurdistan zurückzukehren - obwohl seine Frau schwanger ist. Er, dessen Architekturstudium in Deutschland nicht anerkannt wurde, möchte wieder jemand sein.
Auch Raffiqs Vater ist Architekt, auch er will nach Kurdistan zurück, aber mit seiner Familie. Und hier ist es Raffiq, der Abiturient, der keinesfalls zurück in die fremde Heimat seiner Eltern will, deren Sprache er nur mangelhaft beherrscht. "Weil ich in Kurdistan das bin, was du in Deutschland bist!", schleudert er dem Vater bei einem Streit entgegen.
Kurdistan ist sowohl Sehnsuchtsort als auch Kontrapunkt. Amals Mutter, eine Frau, die nie etwas mit Religion am Hut hatte, beginnt das Kopftuch zu tragen und sich konservativ zu kleiden, als ihr Mann ausgezogen ist. Nicht aus Überzeugung, sondern um Begehrlichkeiten abzuwehren, sie könne als alleinstehende Frau nun leicht zu haben sein. Ironischerweise fangen nun die Frauen der Nachbarschaft an, sie um Rat in religiösen Fragen zu fragen, so dass sie tatsächlich beginnt, sich mit dem Koran auseinander zu setzen. Sie wollte ihrer Tochter ersparen, die Einschränkungen zu erfahren, die für eine junge Frau in der alten Heimat gelten - Einschränkungen, die Amal erlebt, als sie als Abiturientin nach Kurdistan reist, um den Vater und seine neue Familie kennenzulernen.
Sowohl Amal als auch Raffiq kreisen in ihren Erzählungen um Younes und seine alleinerziehende Mutter Shahira, die wegen ihres freizügigen Lebensstils und ihrer kurzen Röcke als "Hure" verschrieen ist. Gleichzeitig ist sie der Typ Löwnmutter, der die Nachbarn zur Rede stellt, wenn deren Kinder - auch Amal - Younes verprügelt haben. Das war allerdings, bevor Younes ein kräftiger junger Mann wird, der beste im Boxclub.
"Im Bauch der Königin" ist Coming of Age-Roman, schildert Fremdheits- und Diasporaerfahrung, auch wenn das Beziehungsgeflecht der jungen Protagonisten auch abgelöst von ihrem kurdischen Hintergrund etwas Universelles hat. Im Vergleich bleibt die "männliche" Sicht allerdings deutlich blasser, es sind Amal und Shahira, die dem Leser besonders prägnant vor Augen stehen und die die klarsten Konturen haben. Amal und Raffiq schildern wiederholt die gleichen Ereignisse, das aber ganz unterschiedlich. Dieser geteilte Blick auf eine Jugend im Kiez macht nur einen der Reize in Tahas Buch aus. "Im Bauch der Königin" besticht durch klare Beobachtungsgabe, durch Witz und Wärme und ist zugleich eine glaubwürdige Charakterstudie junger Menschen.