verdienter Nobelpreis für Literatur
Das Buch "Was vom Tage übrig blieb", im englischen Original "The Remains of the Day" wurde von Kazuo Ishiguro, geboren in Nagasaki (Japan), geschrieben und hat 2017 den Nobelpreis für Literatur gewonnen.
Zusätzlich ...
Das Buch "Was vom Tage übrig blieb", im englischen Original "The Remains of the Day" wurde von Kazuo Ishiguro, geboren in Nagasaki (Japan), geschrieben und hat 2017 den Nobelpreis für Literatur gewonnen.
Zusätzlich zur Geschichte enthält diese Ausgabe des Blessing Verlags ein Vorwort und die Vorlesung des Autors zur Verleihung des Nobelpreises.
Inhalt
Die Rahmenhandlung findet in Großbritannien statt, 1956, also 11 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges. Der Butler Stevens unternimmt eine Reise im Auto seines neuen amerikanischen Dienstherren, um die ehemalige Haushälterin von Darlington Hall, seinem Arbeitsplatz, zu besuchen und zu überreden, wieder die Stelle anzutreten. Dabei durchfährt er einige englische Grafschaften und macht neue Bekanntschaften. Diese Reise geschieht innerhalb einer Woche, so sind auch die Kapitel benannt, mit Zeitpunkt und Ort, wie beispielsweise das erste:
ERSTER TAG – ABEND
Salisbury
Die Binnenhandlung sind Rückblicke in die Zwanziger und Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Stevens noch unter seinem alten Dienstherren arbeitete. Dort erzählt er von wichtigen politischen Treffen, die in Darlington Hall stattfanden, seinem Vater und seiner Beziehung zu Miss Kenton, der ehemaligen Haushälterin.
Meinung
Der Schreibstil dieses Buches ist unglaublich schön: so leicht zu lesen, so flüssig, geradezu tänzerisch und passt trotzdem zum Protagonisten, dem Butler, aus dessen Perspektive erzählt wird, indem der Stil trotz seiner Anmut höflich zurückhaltend wirkt. Es ist ein Sprachmuster, das perfekt zu dem passt, wie ich mir vorstellen würde, dass ein englischer Butler redet: Vornehm und malerisch, aber trotzdem präzise.
Teilweise ist es zum Schmunzeln, zum Beispiel wenn Steven eine Seite lang erklärt (keinesfalls langatmig, sondern perfekt zu seiner Persönlichkeit passend), dass kürzlich vorgefallene kleinere Versehen auf seinen mangelhaften Personalplan zurückzuführen sind. Der Stil und seine Beschreibungen sind sehr bildhaft, sodass man sich gut vorstellen kann, was passiert.
Zu Beginn muss man ein bisschen „reinkommen“ in die Handlung, sich an den Schauplatz gewöhnen, aber sobald die Rückblenden beginnen, also nach etwa 30 von 270 Seiten, kann man das Buch nur noch schwer weglegen, weil es sehr fesselnd ist.
Die Handlung ist durch Rahmenhandlung und Rückblicke sehr rund, weil durch diese Wechsel nur das geschrieben wurde, was wirklich wichtig und lesenswert ist. Der Autor musste also keine überleitenden Kapitel zwischen zwei Szenen einbinden, um das Geschehen rund miteinander zu verknüpfen, sondern konnte die Zeit wechseln, wodurch es niemals langweilig wird. Obwohl ich zugeben muss, dass ich die Rückblicke bevorzugt habe, weil das das Thema war, nämlich die Arbeit des Butlers, die mich mehr interessiert hat. Glücklicherweise empfand ich diese Rückblicke als vorherrschend, sie nahmen (zumindest in meiner Wahrnehmung, ich habe keine Seiten gezählt, um das jetzt quantitativ zu belegen) den größeren Teil der Geschichte ein. Das fand ich auf gute Art überraschend, weil ich in bisherigen Inhaltsangaben das Gefühl hatte, dass die Reise im Fokus steht.
Besonders gefällt mir die Nachvollziehbarkeit. Man kann nicht direkt vorhersagen, was als nächstes passieren wird, wenn man es aber liest, glaubt man es sofort und es erschient als absolut logische Fortführung der vorhergehenden Ereignisse.
Je weiter man im Buch voranschreitet, desto mehr bemerkt man gewisse Zweifelhaftigkeiten. Stevens, immer absolut loyal seinem Dienstherren gegenüber, beginnt, sich Gedanken zu machen, und mit ihm der oder die Lesende, dessen Denken und Empfinden durch den Autor geschickt so gesteuert wird, dass Stevens‘ Sichtweise immer nachvollziehbar bleibt, auch wenn sie moralisch aus heutiger Sicht zweifelhaft sein mag, und dass man die Denkumschwünge selbst miterlebt.
Die Figuren sind sehr fein ausgearbeitet, individuell, dreidimensional und vielschichtig, ebenso wie ihre Beziehungen untereinander. Laut Ishiguros Nobelpreisrede war das auch sein Plan, es ist ihm ausgezeichnet gelungen, vermutlich auch dadurch, dass er vergleichsweise wenig Figuren verwendete. Auf der Reise lernt Stevens natürlich einige neue Menschen kennen, aber in den Rückblenden geht es meistens um die gleichen Personen, sodass man den Überblick über die Nebencharaktere nicht verliert. Zusätzlich haben die Nebencharaktere ihren eigenen Daseinszweck, sie sind nicht nur dazu da, den Hintergrund für die Hauptcharaktere zu bilden, wodurch auch sie nicht einschichtig bleiben.
Meine persönlichen Lieblingsfiguren sind der Protagonist Butler Stevens und die Haushälterin Miss Kenton, die Figuren, um die sich das Geschehen hauptsächlich dreht, weil es am Ende die sind, mit denen ich mich, trotz Unterschiedlichkeit zu heutigen Zeiten, am besten identifizieren kann.
Es ist leicht, mit den Figuren mitzufiebern, teilweise möchte man sie (besonders Stevens) anschreien, „Nein, mach das nicht, siehst du nicht, wo das hinführen wird, jetzt dreh dich um und rede, lauf nicht einfach weg!“, aber es ist zwecklos. Das mag frustrierend sein, weil man genau beobachten kann, was die Auswirkungen dieser Handlungen sind, und es ist herzzerbrechend, mitzuerleben, wie es auch Stevens langsam dämmert, warum die Dinge so kamen, wie sie kamen, aber der Autor hält immer sehr genau die Waage, sodass es erträglich bleibt, dass das Buch nicht mit einem klassischen Happy End endet.
Das Cover ist wunderschön: Das Material ist ein wenig rau, dabei sind der Name des Autors sowie der Titel wie foliert abgesetzt, wodurch es haptisch total toll ist. Das rot ist natürlich etwas auffälliger, wirkt durch die dunkelgraue Marmorierung aber deutlich zurückhaltender. Das Farbschema ist gleichmäßig und ausbalanciert. Die untergehende Sonne im Wasser, die sich ganz im Zentrum befindet, passt genau zur Handlung am Schluss und zum Titel, da sich der Titel nach Abend anhört und der Schluss des Buches tatsächlich abends am Wasser ist.
„‘Ich war überrascht‘, sagt er [der Autor], ‚wie wenig Hausangestellte über Hausangestellte geschrieben haben, gemessen an der Tatsache, dass ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung dieses Landes bis zum zweiten Weltkrieg als Bedienstete beschäftigt war. Es war erstaunlich, dass nur so wenige von ihnen gedacht hatten, ihr Leben sein es wert, aufgeschrieben zu werden. Darum ist das meiste von Was vom Tage übrig blieb … frei erfunden.‘“ (Vorwort, Seite 6)
Obwohl das Buch und sein Inhalt frei erfunden ist, macht es einen sehr realistischen Eindruck, man kann sich gut vorstellen, dass diese Handlung sich genauso abgespielt hat, außerdem zählt es als Alleinstellungsmerkmal, dass eben nicht viele Bücher dieses Themas existieren.
Die Handlung ist verortet in einer Zeitspanne der Krisen, der Spannungen und des Wandels in Europa. Das spürt man beim Lesen, trotzdem wird nur selten auf äußere Ereignisse Bezug genommen, ein seltenes Beispiel war Hitlers Einmarsch im Rheinland.
Auch für Menschen, die nicht aus Großbritannien kommen, einen etwas anderen Hintergrund haben und sich deshalb eventuell weniger in den kulturellen Besonderheiten der englischen Vergangenheit auskennen, also ein eher oberflächliches Wissen haben, ist das Buch leicht zu lesen. „‘Ich habe sehr bewusst versucht, für ein internationales Publikum zu schreiben […] Eine der Möglichkeiten, von der ich meinte, damit könne es mir gelingen, war, mich eines englischen, weltweit bekannten Mythos anzunehmen – in diesem Fall dem des englischen Butlers.‘“ (Vorwort, Seite 5) Diese intendierte Tauglichkeit für nicht-Briten ist dem Autor sehr gut gelungen, da er so nachvollziehbar schreibt.
Ich kann absolut nachvollziehen, dass dieses Buch einen Nobelpreis gewonnen hat. Die literarischen Feinheiten, die man wissenschaftlich zerlegen und analysieren könnte, springen einen förmlich an, machen das ganze Werk wirklich schön, aber man kann das Buch durchaus gut nur zum Lesevergnügen lesen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dann merkt man nämlich die Effekte dieser Methoden, sodass man ein stilistisch wunderschönes Buch genießen kann. Auch inhaltlich und thematisch lässt sich lang und breit darüber diskutieren und analysieren, es sind aktuelle Themen, sehr auf Gedanken und Fragen bezogen, die man sich selbst stellt, ohne penetrant „Literarisches Meisterwerk“ zu schreien.
Beim Lesen wirkt das Buch mühelos, wenn man aber hinterher genauer darüber nachdenkt, erschlägt einen die Fülle der schreiberlichen Raffinesse förmlich. Das macht unter anderem die Anziehungskraft dieses Buches aus. Man spürt, wie genial dieses Buch geschrieben ist, aber es schüchtert nicht ein, weil es viel subtiler ist.
Fazit
Es lohnt sich, genau diese Taschenbuchausgabe zu kaufen und nicht etwa ein eBook oder eine andere Ausgabe, weil sie von der Aufmachung wunderschön ist und man da in anderen Ausgaben vermutlich etwas verpasst. Außerdem ist es ganz spannend, die Rede Kazuo Ishiguros zur Verleihung des Nobelpreises zu lesen, weil es Einblicke gibt in die Biographie des Autors, was auch die Handlung des Buches noch runder macht.
Das Vorwort würde ich aber, wenn man nicht gespoilert werden möchte, erst nach der Geschichte lesen, oder überspringen, wenn man das Buch zum Vergnügen liest, weil es auf mich einen eher literaturwissenschaftlichen Eindruck macht und gerade im Vergleich zum Buch unglaublich trocken wirkt.
Obwohl die Handlung eher in die Richtung „unvergesslich“ geht, wusste ich schon direkt nachdem ich das Buch nach der letzten Seite zuschlug, dass ich es irgendwann nochmal lesen möchte, wahrscheinlich eher in nicht allzu ferner Zeit, weil ich wieder eintauchen möchte in diese wunderschöne Sprache und die Handlung.
Das Buch lohnt sich für jede:n, der oder die sein Leseverhalten durch einen asiatischen Autoren diversifizieren möchte, um nicht immer im eigenen Kulturkreis stecken zu bleiben (obwohl die Handlung zugegebenermaßen in der westlichen Welt stattfindet), oder um in die Werke einzusteigen, die einen Literaturnobelpreis gewonnen haben, oder um einfach, unabhängig von allen Kriterien, ein wirklich gutes Buch zu lesen, weil es wahrhaft Lieblingsbuchpotential hat.