»Niemand schweigt besser als ein missbrauchtes Kind.«
Lilly Lindner erzählt in ihrer Autobiografie »Splitterfasernackt« über einen sehr negativ prägenden Teil in ihrem Leben, der mich als Leser alles andere als kalt gelassen hat. Der Autorin sind Gewalt und ...
Lilly Lindner erzählt in ihrer Autobiografie »Splitterfasernackt« über einen sehr negativ prägenden Teil in ihrem Leben, der mich als Leser alles andere als kalt gelassen hat. Der Autorin sind Gewalt und sexueller Missbrauch schon im Kleinkindalter über mehrere Jahre hinweg angetan worden und später im Alter von 17 gab es dann erneut ein fürchterlich einschneidendes Erlebnis, das Lilly völlig aus der Bahn geworfen und seither ihr weiteres Dasein bestimmt hat.
~ Einmal in diesem Leben möchte ich morgens aufwachen und verstehen, warum ein Mann eine Frau vergewaltigt. Ich möchte begreifen, warum Männer kleine Kinder ficken. ~
(S. 242)
Man will es gar nicht glauben, dass das, was Lilly widerfahren ist, tatsächlich passiert ist. Zu grausam und unfair erscheint es einem. Man fragt sich: Wieso geschehen einem solche Dinge? - Das kann doch nicht einfach Pech oder Zufall sein!? Und vor allem - und das habe ich erst gar nicht verstanden: Warum entschließt sich Lilly in Anbetracht der Geschehnisse dann dazu, als Prostituierte zu arbeiten? - Aber darauf gibt die Autorin uns in ihrem Buch eine Antwort, die ich, so irre sie auch klingt, doch sehr einleuchtend finde und verstehen kann.
Wer Lilly Lindner bereits kennt, weiß, dass sie eine Begabung für die Aneinanderreihung von Worten hat, die man so noch nie erlebt hat. Aber nicht nur das Geschriebene fasziniert und ist einzigartig, nein, ich finde, dass die Autorin genauso fesselnd spricht, wie sie schreibt.
Für Lilly Lindner war das Schreiben und der Umgang mit Worten die einzig richtige Entscheidung in so einer schwierigen Lebenssituation, in der sogar die Eltern versagt haben. Mit dem Schreiben will sie der Stille in ihrem Kopf entkommen, die da und einfach nicht aushaltbar ist, seitdem sie diese schrecklichen Erfahrungen machen musste.
Mutig, sehr mutig fand ich dann vor allem, dass sie ihr Buch zu einem Verlag getragen und veröffentlicht hat. Denn, wer weiß schon, wie vielen von uns Derartiges vielleicht auch passiert ist und darüber jahrelang eisern geschwiegen hat? Möglicherweise macht diese Autobiografie Betroffenen Mut, mit der Wahrheit herauszurücken?
~ Es ist merkwürdig zu sterben, ohne danach tot zu sein. Man fühlt sich leer und verloren, man weiß nicht so richtig, wohin man gehört. ~
(S. 25)
Autobiografien habe ich bisher noch nicht viele gelesen, aber von den wenigen, die ich bereits gelesen habe, ist Lilly Lindners »Splitterfasernackt« eine, die wegen all der Schicksalsschläge und anschließender Selbstgeißelung so emotional zu lesen ist und durch die unglaublich faszinierenden Wortkonstellationen in meinen Augen deswegen wirklich ein Lesehighlight war.