Atmosphärisch, emotional und nachdenklich machend
Das Buch "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet heißt im italienischen Original "Tornare dal bosco", also "Aus dem Wald zurückkehren".
Genau darum geht es in diesem atmosphärischen Buch: über das metaphorische ...
Das Buch "In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet heißt im italienischen Original "Tornare dal bosco", also "Aus dem Wald zurückkehren".
Genau darum geht es in diesem atmosphärischen Buch: über das metaphorische und tatsächliche Verschwinden in den Wald, nachdem etwas Schreckliches passiert ist. Und die Möglichkeit, irgendwann wieder zurück zu kehren in die Gesellschaft - oder nicht.
Das Buch spielt in ländlichen Gebieten im Piemont, im Nordwesten Italiens, und in den 1970er Jahren. Hier lebt und arbeitet die engagierte Lehrerin Silvia, sie ist zwar durch Verwandte sozial gut eingebunden im Ort, aber selbst unverheiratet, ohne Partner und kinderlos. Umso mehr steckt sie all ihre Energie in ihren Beruf und die Förderung und liebevolle Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler ist ihr ein Herzensanliegen.
Besonders am Herz liegt ihr die elfjährige Giovanna, die es noch nie leicht hatte im Leben, aus einer eher armen, kinderreichen Familie stammt, wenig gefördert wird, piemontesischen Dialekt spricht und sich mit Standarditalienisch sehr schwer tut und generell jedes Schuljahr darum kämpfen muss, dieses zu bestehen. Silvia fördert und unterstützt ihre Schülerin schon seit vielen Jahren zusätzlich zum Unterricht. Frühzeitig in der Pubertät angekommen, beginnt Giovanna gegen alles und jeden zu rebellieren, nimmt die Schule nicht mehr ernst... und dann geschieht das Unglück.
Zutiefst bestürzt über diese Nachricht, gibt sich die Lehrerin Silvia eine Mitschuld daran und verschwindet, von Emotionen überwältigt, in den Wald. Die Menschen aus dem Ort stellen Suchtrupps zusammen, um ihre geschätzte Lehrerin wieder zu finden, doch Silvia will nicht gefunden werden und bleibt unauffindbar. Je länger dieser Zustand andauert, umso unwahrscheinlicher scheint eine Rückkehr zu sein...
Das Buch ist sehr leicht und angenehm zu lesen. Es ist in kurze Kapitel unterteilt und die Autorin schreibt auf eine Art und Weise, die einen sofort packt und den Lesenden das Gefühl gibt, tatsächlich im Piemont der 70er Jahre dabei zu sein. Nebenbei lernt man noch so einiges über diese Region und diese Zeit, zum Beispiel über die immer noch spürbaren Nachwirkungen des 2. Weltkrieges, über soziale Unterschiede und solche zwischen Stadt und Land und vieles mehr.
Neben Silvia werden auch einige weitere Personen vorgestellt und es wird auch aus deren Perspektive erzählt, etwa der etwa 11-jährige Martino, der wegen seines Asthmas gemeinsam mit seiner Mutter aus Turin in diese ländliche Gegend mit besserer Luft ziehen musste und die Großstadt und seine Freunde sehr vermisst.
Ich mag auch die Metaphern sehr, mit denen dieses Buch spielt. Es lässt sich einerseits auf der Ebene des tatsächlichen Geschehens lesen. Andererseits ist das "in den Wald gehen" und "sich aus der Gesellschaft rausnehmen" aber auch eine sehr treffende Metapher für das Trauma und die grenzenlose Überforderung, die Menschen nach einem plötzlichen Todesfall völlig überwältigen können, umso mehr, wenn es ein Kind ist, das gestorben ist.
Thematisiert wird auch die Rolle der Lehrerin und was von einer solchen erwartet wird - und der Bruch, der damit einhergeht, diesen auf einmal nicht mehr zu entsprechen, nicht mehr für die Schülerinnen und Schüler da zu sein, sondern ohne Erklärung spurlos in den Wald zu verschwinden.
Sehr interessant sind auch die verschiedenen sozialen Rollen in den 70er Jahren, die dargestellt werden: es gibt verheiratete Frauen, die mehr oder weniger glücklich und mehr oder weniger treu sind... eine ältere Frau, die auf die baldige Legalisierung der Scheidung hofft, um sich endlich offiziell von ihrem Mann trennen zu können... und eben die Lehrerin Silvia, die ein unabhängiges Leben ohne Mann an ihrer Seite und ohne Kinder führt, und sich nur ihrem Beruf verschrieben hat.
Das Buch regt also auf vielen Ebenen zum Nachdenken und Mitfühlen an. Besonders spannend ist, dass es, wie man im Nachwort erfährt, auf einer wahren Geschichte aus der Familie der Autorin beruht. Ich kann es allen, die sich für gute Literatur interessieren, wärmstens empfehlen.