Gute Geschichte, interessante Welt, spannende Charaktere
Tinte, Staub und Schatten: Das Buch der VerlorenenWie wäre es, wenn es unter unserer Welt eine Welt gäbe, die nur aus Büchern besteht? Und wie wäre es, wenn man hier jedes Buch, das man sich vorstellen kann, finden könnte? Das ist die Welt von Minna - ...
Wie wäre es, wenn es unter unserer Welt eine Welt gäbe, die nur aus Büchern besteht? Und wie wäre es, wenn man hier jedes Buch, das man sich vorstellen kann, finden könnte? Das ist die Welt von Minna - das Bücherlabyrinth. Minna ist 16 Jahre alt und beginnt bei Raban Krull - einem stets schlecht gelaunten Bibliothekar - eine Ausbildung zur Büchersucherin. Mit ihr in der Ausbildung sind Gulliver, Rabans Sohn und Jascha, der zunächst völlig undurchsichtig erscheint.
Alle 3 Lehrlinge sind auf ihre Art und Weise einzigartig und sympathisch. Während Gulliver ein ausgemachter Tollpatsch ist, ist Jascha auf den ersten Blick ein Geheimniskrämer und erscheint völlig unnahbar. Minna mit ihrem flammendroten Haar wirkt ein bisschen wie die leuchtende Mitte, die mit ihrem Enthusiasmus beide anzustecken versteht. Überdies ist Minna etwas aufsässig und tut sich ausgesprochen schwer damit, Anweisungen zu befolgen. Mit dieser Eigenschaft bringt sie sich immer wieder in mehr oder weniger gefährliche Situationen, aus denen ihr ihre Freunde heraushelfen, aber sie findet auch unglaublich viel über das Bücherlabyrinth heraus. Ihr sehnlichster Wunsch ist es, herauszufinden, was mit ihrer Mutter wirklich passiert ist. Bei ihrer Suche nach dem Geheimnis des Labyrinths, der Spiegelgänge und der Legendären Bücher muss sie feststellen, dass nicht immer alles so ist, wie es am Anfang erscheint und Menschen nicht immer böse sind, nur weil sie nicht jedem ihre Geschichte erzählen und nicht jeder Mensch ein guter Mensch ist, nur weil er lieb und hilfsbereit wirkt.
Ich mag Minna und Gulliver, allerdings machen beide auf mich eher den Eindruck, als wären sie 13 und nicht schon 16 Jahre alt. Bei Jascha und später auch Parzival habe ich da ein anderes Gefühl. Sie wirken in ihren Handlungsweisen auf mich deutlich älter als Minna und Gulliver. An Minna gefällt mir besonders, dass sie klug und mutig ist, dass sie Dinge kombiniert und es versteht, Fragen zu stellen - bei den richtigen Leuten. Diese Eigenschaften mögen nicht immer auf Gegenliebe stoßen, aber dennoch schafft es Minna, an die nötigen Informationen heranzukommen.
Jeder der 3 Lehrlinge hat seine eigene Geschichte, die innerhalb des Buches nach und nach erzählt wird. So bleibt es spannend und man fragt sich öfter einmal, wie es denn nun weitergeht. Interessant hierbei finde ich, wie die Autorin dabei Themen anspricht, die Jugendliche beschäftigen können, ohne sie einfach plump auszusprechen. Da wäre der unnahbare Jascha, der von vielen zunächst eher als Mädchen wahrgenommen wird. Die Begrifflichkeit androgyn in diesem Zusammenhang ist sicher passend, empfinde ich für die Leserschaft ab 11 aber etwas zu früh. Allerdings beschreibt die Autorin sehr gut, was gemeint ist. Auch Jaschas Geheimnis und seine Probleme damit haben mir gezeigt, dass es möglich ist, mit diesem Thema innerhalb einer Geschichte respektvoll umzugehen und der Leserschaft zu vermitteln, dass genaueres Hinsehen durchaus Verstehen erzeugt.
Ebenso unausgesprochen, aber deutlich zu fühlen liegt die Anziehung zwischen Parzival und Jascha in der Luft. Parzival fühlt sich zu Jascha hingezogen, umgekehrt kann es so sein, muss aber nicht. So kann sich der Leser, ob der Geschlechter der beiden, seine eigenen Gedanken machen.
Nachdem ich in der Realität eben diese Themen manchmal als etwas dick aufgetragen und vordergründig wahrnehme, empfinde ich die Art, diese Themen zu bearbeiten in diesem Buch als sehr angenehm. Die Autorin versteht es, dem Leser das Thema zu vermitteln, ohne ihn damit zu überrollen oder gar mit dem erhobenen Zeigefinger zu schreiben und vor allem ohne dabei die eigentliche Geschichte aus dem Blick zu verlieren. Das gefällt mir ausgesprochen gut.
Parzival ist überhaupt eine Figur, die mir gut gefällt. Eigentlich ist er eher eine Randfigur, aber dennoch schön ausgearbeitet, sodass der Geschichte ohne sie etwas fehlen würde. Er bringt an Stellen Schwung und Humor in die Geschichte, an denen die Lage bisweilen fast aussichtslos erscheint.
Allen 3 Lehrlingen und Parzival ist es gleich, dass sie intelligente Köpfe sind. Auch wenn Gulliver etwas tollpatschig wirkt, ist sein Kopf helle und seine Ideen - und vor allem sein Wissen über das Labyrinth - für die Gemeinschaft überaus wertvoll. Überdies ist er ein sensibler Charakter. Während Parzival etwas draufgängerisch wirkt, Jascha diesbezüglich eher unnahbar, lässt Gulliver seine Gefühle zu. Das macht ihn mir so sympathisch und veranlasst Minna, ihn hier und da in den Arm zu nehmen. Man hat dann auch wirklich das Gefühl, dass er in diesen Momenten, die Nähe zu einem anderen Menschen dringend benötigt.
Die Figur des Raban Krull ist aus meiner Sicht eine der undurchsichtigsten - bis auf die letzten Seiten. Bereits in der Leseprobe hatte ich mir Gedanken dazu gemacht. Raban Krull ist die Figur, der man über die gesamte Länge des Buches wirklich alles zutrauen kann. Wie Parzival ist er eigentlich nur eine Randfigur, aber dennoch beeinflusst er den Leser irgendwie. Er ist geheimnisvoll, lässt wirklich so gar nichts von sich sehen, seine Gespräche mit seiner Schwester geben dem Leser nur noch mehr Rätsel auf. Und bis zum Schluss stellt sich der Leser die Frage, ist er nun der Gute oder der Böse. Allein deshalb mag ich diese Figur richtig gern.
Der Schreibstil der Autorin gefällt mir gut. Es wird nie langweilig. Allerdings ist die Geschichte am Anfang etwas langatmig. Erst zur Mitte des Buches kommt Tempo in die Geschichte. Das mag vielleicht daran liegen, dass anfänglich erst einmal eine Menge erzählt werden möchte, damit sich der Leser in der Welt der Bücher zurechtfinden kann. Dennoch lässt sich das Buch sehr gut lesen. Einziger Kritikpunkt hier mag sein, dass bestimmte Wörter immer wieder auftauchen. So peitschen Minnas Haare auffällig oft durch die Gegend.
Richtig gut gefällt mir die Beschreibung des Bücherlabyrinths. Dieses sah ich vor meinem inneren Auge und konnte es mir gut vorstellen. Das finde ich bei Fantasy Geschichten immer sehr wichtig.
Ein weiteres dickes Plus gibt es für die Auszüge aus den unterschiedlichen Werken am Ende jeden Kapitels. Dabei zitiert die Autorin einerseits fiktive Bücher aus ihrer Bücherwelt, die überdies einen Einblick in eben diese Welt und ihre Geschichte geben, andererseits aber auch Werke wie Faust oder die Bibel. Diese Mischung gibt dem ganzen einen Touch von “es könnte ja vielleicht doch so sein” und macht dem Leser klar, dass die Autorin hier nicht oberflächlich über eine Welt erzählt, sondern diese wirklich gut kennt.
Was die Zielgruppe angeht, so glaube ich, dass 11 Jahre zu früh ist. Ich würde das Buch eher für die Zielgruppe ab 13 oder auch später ansiedeln. Die Protagonisten sind weitgehend durch die Pubertät hindurch oder mittendrin, während der 11jährige Leser noch nicht einmal unbedingt drin ist. Der Hintergrund sind u.a. die behandelten Themen. Auf jeden Fall ist das Buch auch ein Genuss für Jugendliche und Erwachsene.
Fazit:
Mir hat das Buch gefallen. Die Autorin lässt eine Welt voller Bücher aufleben, die beeindruckend ist. Da ich mich selbst gern einmal in einer solchen Welt wiederfinden würde - vielleicht mit weniger gefährlichen Bewohnern - konnte ich mich gut in die Geschichte hineinfallen lassen. Die Mischung aus Geschichte und Themen für Jugendliche gelingt der Autorin gut. Ihr Schreibstil ist flüssig und gut lesbar und es ist eine Freude, mit Minna und ihren Freunden die Geheimnisse des Labyrinths und seiner Bewohner zu lüften.