Und wenn sich alles in Kreisen bewegt…
Umlaufbahnen"Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig.“ Ihre Worte, nicht meine. Samantha Harvey nimmt die Leser in ihrem Roman 16mal mit um die Erde – denn so ...
"Brutal ist das Leben hier, unmenschlich, überwältigend, einsam, außergewöhnlich und großartig.“ Ihre Worte, nicht meine. Samantha Harvey nimmt die Leser in ihrem Roman 16mal mit um die Erde – denn so viele Erdumrundungen schafft die Raumstation in 24 Stunden.
Das was auf der Erde ein Tag und eine Nacht ist – klar strukturiert von Sonnenauf- und -untergang, macht die sechs Astronauten verrückt. Oder vielmehr – sie müssen lernen, sich davon nicht verrückt machen zu lassen. Denn sie erleben 16 Sonnenaufgänge, 16 Sonnenuntergänge innerhalb dieses Zeitraums – und das jeden Tag. Da wird einem schon beim Lesen schummrig…
Nicht nur einmal habe ich mich als Leser gefragt: könnte ich das? Könnte ich mit den Bedingungen umgehen, in die sich die sechs Raumfahrer – vier Männer und zwei Frauen – freiwillig begeben haben? Worin besteht ihr Tagesablauf? Wie kommen sie mit der Schwerelosigkeit zurecht? Woran denken sie, wenn sie aus den Sichtfenstern der Raumstation schauen?
Man muss sich bewusst sein, dass dieser Roman keine actiongeladene Science Fiction-Geschichte erzählt. Ganz im Gegenteil. Als würde man selbst mit in der Schwerelosigkeit schweben, driften die Gedanken durch Zeit und Raum. Mal begleiten wir die Asiatin Chie, die im All gerade die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erhalten hat. Mal vermissen wir mit Pietro die italienische Großfamilie. Mal schauen wir mit dem russischen Kosmonauten Anton hinunter auf eine Welt, auf der keine Grenzen erkennbar sind – obwohl es doch da unten auf der Erde politisch permanent darum geht, Landesgrenzen zu erhalten, zu sichern, zu verteidigen.
Dies ist kein Buch zum schnellen Durchlesen. Es ist eins, das man betont langsam lesen sollte, wenn man den Anspruch hat, sich mit den von der Autorin angesprochenen Themen auseinanderzusetzen. Teilweise klingt es wie ein Philosophieren, teilweise werden aber auch die Fakten des (herausfordernden) Alltagslebens in der Raumstation dargestellt.
Samantha Harvey hat für diese Darstellung den Booker Prize 2024 für das beste englischsprachige Buch des Jahres erhalten. Zu Recht? Das muss jeder für sich entscheiden. Die Autorin betrachtet die Erde und ihre Menschen von oben, wirft im wahrsten Sinne des Wortes mit Abstand einen Blick auf den Planeten. Wer für eine gute und inhaltsreiche Lektüre keinen klassischen Plot braucht, sondern seine Gedanken schweifen lassen möchte, ist mit diesem Roman gut beraten.