Profilbild von EmmaWinter

EmmaWinter

Lesejury Star
offline

EmmaWinter ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit EmmaWinter über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein Insel

Melnitz
0

Während des Nationalsozialismus galt die Schweiz als sicherer Hafen für Verfolgte. Die Geschichte der jüdischen Familie Mei(j)er - das „j“ spielt eine wichtige Rolle - wird vor den historischen Ereignissen ...

Während des Nationalsozialismus galt die Schweiz als sicherer Hafen für Verfolgte. Die Geschichte der jüdischen Familie Mei(j)er - das „j“ spielt eine wichtige Rolle - wird vor den historischen Ereignissen vornehmlich in der Schweiz geschildert. Wir begleiten die fünf Generationen über den Zeitraum vom 1871 bis 1945. Der Roman hat satte 765 prall gefüllte Seiten. Und wie bei jedem guten Familienroman ist man traurig, sich von einer Generation verabschieden zu müssen, die man über viele Seiten lieb gewonnen hat, um sich kurz drauf genauso mit den Töchtern und Söhnen in neuen Geschichten zu verlieren.

Dem schweizer Autor Lewinsky ist das hier großartig gelungen. Die Handlung konzentriert sich auf einzelne Familienmitglieder und gibt doch einen Eindruck von der ganzen Mischpoche, beginnend mit dem Viehhändler Salomon und seiner Frau Golde.

Was mir besonders gefallen hat, sind neben den unglaublich lebendigen Figuren, die Entlarvung der Mechanismen, mit denen Menschen jüdischen Glaubens ins Abseits gedrängt wurden, seit Jahrhunderten. Wie hier ein kleines Rad in das nächste greift und die Vorurteile am Rollen hält. Dafür findet Lewinsky sehr anschauliche Beispiele, die wunderbar in die Geschichte integriert sind. Großartig ist auch die Figur des titelgebenden Onkel Melnitz, der schon lange verstorben ist, sich aber vor allem als Erinnerung eines ganzen Volkes immer wieder materialisiert. So hat er auch das letzte Wort in diesem Roman; er, der als einziger alle Namen, alle Geschichten kennt: „Sechs Millionen neue Geschichten, ein dickes Buch, aus dem man eine Generation lang würde vorlesen können, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Geschichten, die nicht zu glauben waren, schon gar nicht hier in der Schweiz, wo man all die Jahre auf einer Insel gelebt hatte, auf trockenem Boden mitten in der Überschwemmung.“ (S. 761)

Eine riesige Empfehlung für diesen unterhaltsamen, humorvollen, schrecklichen und so gut geschriebenen Roman und das Hörbuch, eingesprochen vom Autor selbst. Wer Brilka mochte, findet hier ein weiteres Lieblingsbuch.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.06.2024

Am 20. Mai in Paris

Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin
0

An diesem Tag, so die Wahrsagerin, wird sich das Leben von Mathilde ändern, ein Mann werde sie erlösen. Die alleinerziehende Witwe mit drei Kindern befindet sich seit Monaten in einer Abwärtsspirale. Schritt ...

An diesem Tag, so die Wahrsagerin, wird sich das Leben von Mathilde ändern, ein Mann werde sie erlösen. Die alleinerziehende Witwe mit drei Kindern befindet sich seit Monaten in einer Abwärtsspirale. Schritt für Schritt wurde aus ihrem erfüllten Berufsleben ein Martyrium. Nur mühsam kann sie die täglichen Aufgaben außerhalb des Büros erfüllen, hat den Kontakt zu ihren Freunden nahezu komplett abgebrochen. Sie steht kurz vor einem Burnout oder schlimmerem. "In Paris wirft sich alle vier Stunden ein Mann oder eine Frau vor die Metro." (S. 57)

Thibault, Notfallarzt in Paris, fühlt ähnlich. Die tägliche Fahrerei quer durch die überfüllte Metropole zu Notfällen, das Leiden der anderen, die eigene Leere, zermürben ihn.

Wir begleiten die beiden an diesem 20. Mai durch Paris und schauen tief in ihr Inneres. Die Stadt zeigt sich von ihrer unschönen Seite, kein Glamour, keine Boulevards, kein Luxus. Die Geschichte hat mich sofort gepackt und ich habe sie in einem Rutsch zu Ende gelesen. Die Erzählzeit ist hier Präsens, nicht wie üblich Präteritum, und so wird eine Unmittelbarkeit erzeugt, die einen ganz starken Sog ausübt. Die Autorin schreib klar, häufig in kurzen Sätzen, so treibt sie den Tag und die Handlung voran, es bleibt durchweg spannend. Was wird an diesem Tag passieren?

Ich habe bereits mehrere Bücher von De Vigan gelesen und sie haben mir alle sehr gut gefallen, dieser Roman ist keine Ausnahme. Wie die Autorin Gesellschaftskritik betreibt und das stückweise Demontieren einer Frau durch ihren Vorgesetzten darstellt, ist wirklich gelungen und hat mich so wütend gemacht . Auch finde ich es glaubhaft, dass Mathilde das Mobbing zunächst nicht als solches wahrnimmt und dann, in der Annahme, dass sich alles schon wieder einrenken werde, ignoriert, bis es zu spät ist. Eine große Leseempfehlung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 31.05.2024

Die verschwundenen Kinder

Junge mit schwarzem Hahn
0

Im Dreißigjährigen Krieg (1618-48) ließen nach Schätzungen ca. 40% der Landbevölkerung ihr Leben. Und so fiebern wir mit dem kleinen Waisenjungen Martin mit, der in dieser brutalen und rücksichtslosen ...

Im Dreißigjährigen Krieg (1618-48) ließen nach Schätzungen ca. 40% der Landbevölkerung ihr Leben. Und so fiebern wir mit dem kleinen Waisenjungen Martin mit, der in dieser brutalen und rücksichtslosen Zeit auf sich alleine gestellt ist. Obwohl nicht ganz, denn sein schwarzer Hahn sitzt ihm immer auf der Schulter und die beiden beschützen sich gegenseitig. Etwas Geheimnisvolles haftet Martin an. Er ist schlau, schlauer als alle anderen Dorfbewohner und damit prädestiniert, der Held dieser kleinen Geschichte zu werden. Er will ein entführtes Mädchen wiederfinden, das der schwarze Reiter mitgenommen hat, denn ein "gerettetes Leben ist alle Leben" (S. 89). Und so begibt er sich auf die klassische Heldenreise, muss märchenhafte Abenteuer bestehen und kämpft ums Überleben.

So eine warmherzige Figur ist dieser kleine Junge, inmitten all des Elends und des Todes. Mit einer einfachen, klaren Sprache, die wirklich sehr an Märchen erinnert, entführt die Autorin in diese Welt vor 400 Jahren. Die ungeschminkte Schilderung hat mich an "1793" von Niklas Natt och Dag erinnert, in dem für mich erstmals in einem Roman so schonungslos über Dreck, Elend, Schmerz etc. geschrieben wurde.

Ich habe den Roman fast atemlos in einem Stück gelesen. Er hat mich sofort gepackt, weil die Story so ungewöhnlich, märchenhaft und rätselhaft ist. Die Figuren und vor allem das Setting sind in ihrer sparsamen Beschreibung lebendig geworden. Ich kann absolut verstehen, dass dieser Roman so gelobt wurde. Ich tut es hiermit auch!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.05.2024

Annette

Fräulein Nettes kurzer Sommer
0

Von 1817 bis 1821 begleiten wir die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in diesem Roman, der mir wahnsinnig gut gefallen hat. Karen Duve zeichnet ein feines, detailreiches und oft amüsantes Bild dieser ...

Von 1817 bis 1821 begleiten wir die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in diesem Roman, der mir wahnsinnig gut gefallen hat. Karen Duve zeichnet ein feines, detailreiches und oft amüsantes Bild dieser Zeit, die geprägt ist von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Wir lernen die übergroße Familie der Droste kennen, die ihr kaum einmal Zeit zum Alleinsein ermöglicht und der sie oft in die Natur entflieht, um Mineralien zu sammeln - völlig unangemessen! Das Gewimmel, den Lärm, die ständige beschwerliche Reiserei und die Lebensumstände im ländlichen Westfalen zeigen anschaulich auf, wie es im Biedermeier zuging. Neben dem studentischen Leben der Herren, das wirklich höchst humorvoll und auch entlarvend dargestellt wird, sieht das Frauenbild dieser Zeit eher traurig aus: Sticken, stricken, klöppeln und nett aussehen, auf keinen Fall seine Meinung äußern. Die zwar kränkliche aber extrem aufmüpfige Annette passt da so gar nicht hinein. Als sie sich in einen armen bürgerlichen (und protestantischen) Studenten verliebt, schreiten die Verwandten zu Tat.

Mir hat diese lebendige Schilderung der Figuren und ihrer Zeit sehr viel Spaß gemacht. Annette und ihre Familie pflegten Umgang mit vielen bekannten Personen. Es tauchen so viele Dichter (ja, leider nur Männer) auf - irgendwie unglaublich, dass sich alle kannten. Neben Annette und ihrem Herzensmenschen Straube, gilt auch den Brüdern Grimm viel Aufmerksamkeit. Es tut so weh zu lesen, dass sie mit ihren Kinder- und Hausmärchen zunächst belächelt wurden und keinen Erfolgt hatten. Von der Erstauflage (1.000 Exemplare) des 2. Teils musste mehr als die Hälfte unverkauft wieder eingestampft werden.

Irgendwie gefreut hat es mich, dass die poetischen Anwandlungen der Studenten mit ihrer literarischen Zeitschrift im Sande verlaufen sind, wohingegen Annette, der man auf keinen Fall und unter keinen Umständen ein Talent bescheinigen wollte, heute bekannter ist, als alle Männer dieses elitären Kreises. Was hätte die Droste noch alles schreiben können, wenn sie nicht genötigt gewesen wäre, einen Großteil ihres Lebens mit stumpfsinnigen Tätigkeiten zu vergeuden.

Der Schreibstil besticht durch eine an die beschriebene Epoche angepasste Form und überrascht immer wieder durch peppige Einlagen.

Große Leseempfehlung besonders für alle, die sich für die Literatur der Romantik und des Biedermeier interessieren und für alle, die Annette von Droste-Hülshoff näher kennenlernen wollen.

Sehr erhellendes Nachwort, Stammbaum und Landkarte, sowie Einbindung von kleinen Passagen interessanten Faktenwissens runden diesen Roman ab.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.03.2024

Von der ARAL-Tankstelle und Drachen

HERKUNFT
0

Was für ein wunderbares Buch! Der Autor schreibt über seine Heimat, seine Herkunft und seine Familie: Das ist Jugoslawien vor und nach dem Krieg. Das ist Heidelberg und die ARAL-Tankstelle. Das ist das ...

Was für ein wunderbares Buch! Der Autor schreibt über seine Heimat, seine Herkunft und seine Familie: Das ist Jugoslawien vor und nach dem Krieg. Das ist Heidelberg und die ARAL-Tankstelle. Das ist das Dorf der Großmutter in den Bergen und das Fantasiespiel mit Freunden.

In nicht allzu strenger Chronologie begleiten wir Ich-Erzähler Saša aus seiner behüteten Kindheit in Jugoslawien heraus nach Deutschland. Der Zufall will es: nach Heidelberg. Hier ist er an seiner Schule ein Flüchtling unter vielen. Er, der die Sprache erst lernen muss, macht Abitur, studiert und schreibt. Von klein an fabuliert er und liebt es Geschichten zu schreiben. Daher ist auch dieser Roman eine Geschichte, bei der man nicht genau weiß, was erlebt und was erfunden wurde. Immer wieder zieht es ihn in die alte Heimat zur Großmutter, die einen großen Teil des Romans ausmacht. Um sie kreist alles. Als ihre Demenz fortschreitet und ihre Erinnerungen verblassen, beginnt der Enkel Erinnerungen zu sammeln.

Herausgekommen ist ein ganz ungewöhnlicher Roman, der sich mit dem Zufall der Herkunft auseinandersetzt. Ein liebevoller Roman über eine weit verstreute Familie, voll mit Geschichten, Anekdoten und Fantasien. Es macht so viel Spaß dieses Buch zu lesen. Es ist wunderbar witzig, geistreich und kurzweilig. So viele Sätze, die ich mir markiert habe und so vieles über das man nachdenken muss. Dazu eine Schlusspassage, die nochmal völlig überrascht. Eine ganz große Leseempfehlung. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2019.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere