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Veröffentlicht am 26.12.2018

Ausgeträumt …

Mein Sardinien
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Er hatte sich das Leben in Berlin Ende der 70er-Jahre anders vorgestellt, der Germanistik-Student aus Westfalen, lebhafter und unterhaltsamer. Bisher ist jedoch nichts interessant für ihn, weder seine ...

Er hatte sich das Leben in Berlin Ende der 70er-Jahre anders vorgestellt, der Germanistik-Student aus Westfalen, lebhafter und unterhaltsamer. Bisher ist jedoch nichts interessant für ihn, weder seine Abschlussarbeit, an der er gerade schreibt, noch seine WG in Schöneberg. Auch die Abende haben nicht viel zu bieten. Sein Job als Türschließer in der Berliner Philharmonie würde ihm schon gefallen, wenn er denn die Konzerte anhören dürfte – aber das ist nicht erlaubt. Die Tage dümpeln so vor sich hin bis er eines Nachts, entgegen seiner Gewohnheit, eine italienische Bar betritt und dort Cristina kennen lernt, eine junge Frau aus Sardinien. Er verliebt sich sofort in sie, und, für ihn selbst überraschend, wird aus den beiden bald ein Paar. Als dann Cristina nach Sardinien zurück will, um im Gartenbaubetrieb ihres Bruders mitzuarbeiten, ist unser Student nur zu gerne bereit mitzukommen. Er kann sich durchaus vorstellen, zukünftig in Berlin zu studieren und auf Sardinien mit Cristina das Leben zu genießen. Ob sich seine Träume wohl verwirklichen lassen … ?

Hans-Ulrich Treichel, geb. 1952 in Versmold/Westfalen, studierte an der FU Berlin Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft und promovierte 1984, war dann an den Universitäten Salarno und Pisa Lektor für deutsche Sprache. 1993 habilitierte er sich und lehrte als Professor bis 2018 am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Hans-Ulrich Treichel schrieb zahlreiche Romane, Gedichte und Essays, wofür er einige namhafte Auszeichnungen und Ehrungen erhielt. Seine Werke wurden in 28 Sprachen übersetzt. Heute lebt Treichel in Berlin und Leipzig.

Als Ich-Erzähler versucht hier der Autor, seine Erlebnisse, Gefühle und Sehnsüchte gegen Ende der 70er-Jahre dem Leser nahe zu bringen. Während ihm dies beim Erleben (er beschreibt exakt jede Straße, jedes Ladenlokal und selbst die Stationen und Nummern der Buslinien) manchmal nur zu gut gelungen ist, konnte ich mich in seine Gefühle absolut nicht hinein versetzen. Von inniger Liebe zwischen Cristina und ihm konnte ich nichts zu spüren, es war allenfalls ein gewisses Begehren vorhanden. Bei den Sehnsüchten nach dem ‚Land wo die Zitronen blühen‘ bezieht sich Treichel hauptsächlich auf Zitate früherer berühmter Italienreisenden, wie Johann Wolfgang von Goethe, D.H. Lawrence, Ernst Jünger und einigen anderen, was sich permanent wiederholt und den Lesefluss entscheidend hemmt.

Der Schreibstil des Autors gefällt mir ansonsten recht gut. Sachlich-lakonisch, dennoch humorvoll und manchmal recht ironisch beschreibt er die Verhältnisse und Begebenheiten. Ein herrliches Beispiel ist, als er auf der Ladefläche eines Kleintransporters ein Spaliergitter für Pflanzen festhalten musste (S.86): „Meine Aufgabe als Festhalter des Holzgitters bewältigte ich ohne Probleme und kam mir sogar ein wenig abenteuerlich vor, wie ich so auf der Ladefläche des Transporters über die Insel fuhr. Hinter mir eine Staubwolke, vor mir die untergehende Sonne, in den Händen das hoch aufragende und schwankende Blumengitter, das ich wie ein Segel mal in die eine und mal in die andere Richtung navigierte, wobei ich eine Zeitlang von kreischenden Möwen begleitet wurde, die den Piaggio offenbar mit einem Fischkutter verwechselten, bis sie begriffen, dass hier nichts zu holen war, und Richtung Meer abdrehten.“

Solche und ähnliche Passagen sind es, die mich letztendlich mit dem Buch ausgesöhnt haben, denn eine Liebesgeschichte, wie im Untertitel zu lesen, ist es nur bedingt – und auf keinen Fall eine Liebeserklärung an Sardinien.

Veröffentlicht am 16.12.2018

Versuch einer Erklärung …

Vater, Mutter, Stasi
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1989 bei der Wende ist Angela Marquardt gerade 18 Jahre alt und steht kurz vor dem Abitur. Durch einen glücklichen Umstand kommt sie an die Politik, tritt der PDS bei und macht schnell Karriere. Mit 25 ...

1989 bei der Wende ist Angela Marquardt gerade 18 Jahre alt und steht kurz vor dem Abitur. Durch einen glücklichen Umstand kommt sie an die Politik, tritt der PDS bei und macht schnell Karriere. Mit 25 Jahren ist sie bereits stellvertretende Parteivorsitzende und wird Bundestagsabgeordnete. Dann, 2002, wird aufgrund ihrer Stasi-Akte bekannt, dass sie sich bereits im Alter von 15 Jahren dem MfS verpflichtete. Eine öffentliche Hetzjagd beginnt. Sie verlässt die Politik, tritt aus der PDS aus und widmet sich ihrem Studium der Politikwissenschaft an der FU Berlin, das sie 2005 mit Diplom abschließt. Heute ist Angela Marquardt Mitglied der SPD und gehört zum Mitarbeiterstab der Bundestagsabgeordneten und SPD-Vorsitzenden Andrea Nahles.

Das Buch „Vater, Mutter, Stasi“ ist der Versuch einer Erklärung der Geschehnisse und zugleich Befreiung von der Vergangenheit. Marquard schreibt über die schwierigen Familienverhältnisse in ihrer Kindheit und Jugend, über Missbrauch, sowohl sexuell durch ihren Stiefvater, als auch psychisch durch Stasi-Freunde ihrer Eltern, die das Mädchen bereits mit 14 Jahren im Visier hatten und sie mit 15 Jahren eine „Verpflichtungserklärung“ unterschreiben ließen. Sie lässt nichts aus, beschönigt nichts, kann sich aber auch an vieles nicht mehr erinnern. Sie hat verdrängt, was nicht sein konnte und sein durfte – bis sie sich mit diesem Buch entschlossen hat, ihre Erinnerungen zu erzählen und anhand der Stasi-Akten und anderer Dokumente die damaligen Vorkommnisse zu rekonstruieren.

Fazit: Ein recht interessantes Buch, wenn man sich für Politik interessiert und mehr über die Verhältnisse in der ehemaligen DDR erfahren möchte.

Veröffentlicht am 09.12.2018

Eine Reise zu sich selbst …

Umweg nach Hause
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Ben ist gerade mal 40 Jahre alt und steckt in einer tiefen Lebenskrise. Seine Frau hat ihn verlassen, seine beiden kleinen Mädchen hat er verloren und seinen Kummer hat er bisher in Alkohol ertränkt. Aus ...

Ben ist gerade mal 40 Jahre alt und steckt in einer tiefen Lebenskrise. Seine Frau hat ihn verlassen, seine beiden kleinen Mädchen hat er verloren und seinen Kummer hat er bisher in Alkohol ertränkt. Aus Geldmangel entschließt er sich, einen Crashkurs in „häuslicher Pflege“ zu machen und bei Elsa anzuheuern, um ihren 19-jährigen Sohn Trevor zu pflegen und zu betreuen, der unheilbar an Muskeldystrophie erkrankt ist. Zunächst gestaltet sich das Verhältnis zwischen dem zynischen Jugendlichen und Ben nicht ganz einfach. Doch dann macht Ben den Vorschlag, Trevors Vater Bob aufzusuchen, der die Familie verlassen hat als Trev drei Jahre alt war. Er möchte, dass Vater und Sohn sich aussöhnen. So machen sie sich im Van, beladen mit Rollstuhl und Campingutensilien, auf den langen Weg quer durch Amerika von Washington State nach Salt Lake City. Auf dem Weg lernen sie seltsame Menschen kennen, nehmen eine junge Anhalterin und eine Schwangere mit, besuchen ausgefallene Sehenswürdigkeiten, werden von einem Unbekannten verfolgt und erleben die kuriosesten Abenteuer …

„Umweg nach Hause“ ist der zweite Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Jonathan Evison, der 1968 in San Jose, Kalifornien, geboren wurde und heute mit Frau und zwei Kindern auf der Olympic Halbinsel im Washington State lebt.
Es ist eine Geschichte, die zwar viele heitere und kuriose Momente enthält, die aber dennoch sehr tiefgründig ist. Es geht um eine ungewöhnliche Freundschaft, um Lebensmut trotz Krankheit und Schicksalsschlägen, um Hilfsbereitschaft und um Verzeihen. Die Charaktere muss man einfach gernhaben. Ben, der im Leben sehr viel Pech hatte, sich an die Vergangenheit klammert und den doch eine hoffnungsvolle Zukunft erwartet – Trev, der von einer heimtückischen Krankheit befallen ist und im Rollstuhl sitzt, der oft zynisch ist und immer versucht, das Beste aus seinem restlichen Leben zu machen. Die Reise der beiden quer durch Amerika wird für sie eine Reise zu sich selbst und ein Abfinden mit den Gegebenheiten – für den Leser eine Anregung zum Nachdenken.
Fazit: Eine Geschichte zwischen Komik und Tragik, zwischen Skurrilität und Sentimentalität – manchmal leicht übertrieben, aber immer gut zu lesen.

Veröffentlicht am 02.12.2018

Sardinien wie man es nicht kennt …

Padre Padrone
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Gerade mal einen Monat durfte der 6-jährige Gavino zur Dorfschule gehen, dann wird er von seinem Vater rigoros heraus genommen und gezwungen, als Hirtenjunge die Schafe und Ziegen der Familie zu hüten. ...

Gerade mal einen Monat durfte der 6-jährige Gavino zur Dorfschule gehen, dann wird er von seinem Vater rigoros heraus genommen und gezwungen, als Hirtenjunge die Schafe und Ziegen der Familie zu hüten. Für den kleinen, zarten Jungen beginnt eine schier unmenschliche Zeit, in der er alleine der kargen Wildnis in Sardiniens Bergen ausgesetzt ist. Statt wohlbehüteter Kindheit durchlebt Gavino ein endloses Martyrium, bei dem er selbst beim kleinsten Fehler vom Vater gnadenlos gezüchtigt wird. Das soll sich erst ändern, als er sich mit 20 Jahren freiwillig zum Militär meldet. Dort lernt er endlich Lesen und Schreiben, macht eine Lehre als Radiomechaniker und bildet sich autodidaktisch so weit, dass er sogar die Prüfung als Lehrer besteht. Dann geht er zurück in sein Dorf Siligo auf Sardinien, wo sich nichts verändert hat …
Was anmutet wie finsterstes Mittelalter, ist noch gar nicht so lange her. Der Autor Gavino Ledda veröffentlichte seine Autobiografie erstmals 1975 auf Italienisch, 1977 wurde das Buch verfilmt, die erste deutsche Übersetzung erschien 1980. Es ist ein erschütternder Bericht über eine unvorstellbar harte Kindheit und Jugend auf Sardinien in den Jahren zwischen 1945 und etwa 1965, geprägt von Demütigungen und Schlägen, aber auch über den unbändigen Willen eines jungen Mannes zu lernen, sich zu bilden und sich von der Abhängigkeit des übermächtigen Vaters zu lösen. Gavino Ledda bedient sich einer kraftvollen, schnörkellosen Sprache und beschönigt dabei nichts – nicht die Lebensbedingungen auf dem Niveau von Tieren, nicht die Grausamkeit der Menschen, nicht die sexuellen Nöte, nicht die bestialische Gewalt und nicht die existenziellen Ängste. Es ist auch eine herbe Kritik an der Gesellschaft, die das Analphabetentum tolerierte und bei Kinderarbeit, Unterdrückung und brutaler Züchtigung einfach wegsah. Wunderbare Natur- und Landschaftsbeschreibungen versöhnen und runden die Geschichte passend ab.

Veröffentlicht am 30.10.2018

Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens …

Hippie
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Paulo ist auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, nach Erleuchtung, nach anderen, höheren Dimensionen, in die er seinen Geist entschweben lassen will. Lange Haare und bunte Kleidung sollen dem 23jährigen ...

Paulo ist auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, nach Erleuchtung, nach anderen, höheren Dimensionen, in die er seinen Geist entschweben lassen will. Lange Haare und bunte Kleidung sollen dem 23jährigen Brasilianer dazu verhelfen, sie sind zu seinem Markenzeichen geworden. Einige recht gefahrvolle Reisen in Mittel- und Südamerika hat er bereits hinter sich, als er im September 1970 in Amsterdam ankommt. Karlas Anreise war nur ein Katzensprung, die Holländerin kam aus Rotterdam. Zuvor war sie einige Zeit durch Europa getrampt, bevor sie sich jetzt entschlossen hatte, mit dem „Magic Bus“ auf dem Hippie-Trail nach Kathmandu zu reisen. Jetzt braucht sie nur noch einen Begleiter. Den findet sie in Paulo – zusammen begeben sie sich auf die abenteuerliche Reise …

Es ist heute kaum vorstellbar, dass Paulo Coelho, brasilianischer Schriftsteller und Autor einiger Weltbestseller, sein Studium der Rechtswissenschaften unterbrach, um sich der Hippie-Bewegung anzuschließen und zwei Jahre lang die Welt zu bereisen. In seinem Buch „Hippie“ erinnert er sich autobiografisch an diese Zeit zurück.

Zwei Orte waren seinerzeit das Mekka der jungen Leute, Piccadilly Circus in London und der Dam in Amsterdam. Dort traf man sich mit Gleichgesinnten um seine Lebensfreude auszudrücken, um Beatmusik zu hören, Drogen zu konsumieren und Sexpartner zu finden. Lange Haare und bunte Kleidung gehörten selbstverständlich auch dazu. Paulo erhoffte sich von seinen Reisen Erleuchtung, suchte sie zunächst unter dem Sonnentor am Titicacasee, in den Ruinen von Machu Picchu und bei den Steinskulpturen von Vila Velha. Da die ersehnte Offenbarung nicht eintrat, machte er sich auf den Weg nach Amsterdam, wo er sich für die Ideen und Riten der Hare-Krishna interessierte, der Holländerin Karla begegnete und mit ihr den „Magic Bus“ Richtung Nepal besteigt. Unterwegs werden sie die Liebe kennen lernen, kleine und große Abenteuer erleben, sich ihren Ängsten stellen und neue Werte entdecken, die sie für immer verändern werden …

Coelhos Schreibstil ist von großer erzählerischer Kraft, lebendig und fesselnd. Er wählte für seinen Roman einen Erzähler in der dritten Person und schafft so eine gesunde Distanz zwischen sich und den Empfindungen und Gedanken der Person des Paulo. In einem Nachwort erwähnt Coelho ausdrücklich, dass seine Schilderung den Tatsachen entspricht und die im Buch vorkommenden Personen tatsächlich existieren. Als er im Jahre 2005 (er war bereits ein berühmter Schriftsteller) einen Vortrag in Amsterdam hielt versuchte er, Karla ausfindig zu machen, es gelang ihm nicht. Was ihm mit diesem Buch jedoch gelang ist, der Hippie-Bewegung ein Denkmal zu setzen und ein gewisses Verständnis für die Jugend von damals zu wecken.

Fazit: Für Coelho-Fans und Interessierte an der Hippie-Kultur ein aufschlussreiches Buch – mir war es etwas zu spiritistisch und religiös angehaucht. Das sollte jeder für sich herausfinden.