Profilbild von Kwinsu

Kwinsu

Lesejury Profi
offline

Kwinsu ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Kwinsu über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.01.2025

Ein unbeschreiblicher Roman

Ours. Die Stadt
0

Ich habe mir nun etliche Rezensionen zu diesem Buch durchgelesen, doch alle sagen für mich nicht aus, was ich beim Lesen dieses Romans gefühlt & durchgemacht habe. Ich selbst kann das kaum wiedergeben, ...

Ich habe mir nun etliche Rezensionen zu diesem Buch durchgelesen, doch alle sagen für mich nicht aus, was ich beim Lesen dieses Romans gefühlt & durchgemacht habe. Ich selbst kann das kaum wiedergeben, nein, es ist mir schier unmöglich. Schon allein den Inhalt zusammenzufassen ist kaum machbar. Der Text, der sich über 700 Seiten streckt, ist aufs höchste fordernd, die Sprache ist so dicht und bildgewaltig, dass das Lesen nur im Schneckentempo voran schreitet, begleitet durch Wiederwillen und Faszination gleichermaßen.

Inhaltlich ist eines gewiss: Saint, eine Frau mit einem stummen Begleiter, befreit zahlreiche Sklav:innen von ihren Plantagen, Mitte des 19. Jahrhunderts, nimmt Leben und gibt den Befreiten ein solches an einem Ort namens Ours. Durch Magie, Zauberei oder Voodoo, wie immer man Übernatürliches nennen will, gelingt es ihr, den Ort unsichtbar zu machen. Saint ist zwar eine zentrale Figur, aber nicht der Hauptcharakter, zahlreiche andere Personen scheinen für die Geschichte essentiell. Das Erzählte ist so dicht, dass es schwer fällt dem allen zu folgen. Zudem werden immer wieder neue Themen und Figuren eingeführt, die für den weiteren Roman nicht unbedingt eine Rolle spielen; oder aber doch.

Übernatürliches ist eine wiederkehrende und zentrale Thematik, Figuren haben Fähigkeiten, beispielsweise können sie mit den Augen eines Tieres sehen oder eine auf sie gerichtete Kugel an den Entsender zurückschicken. Diese rituellen Passagen werden äußerst detailreich beschrieben, was für mich das Lesen dieser sehr mühsam gemacht hat, da ich persönlich nichts damit anfangen kann. Immer wieder kehrt auch die Liebe als Thema zurück, allerdings in keiner Hinsicht romantisch, sondern eher als schmerzende Auswucherung. Grundsätzlich werden hier alle Emotionen als negativ und schmerzhaft beschrieben, sodass ich mich des Öfteren gefragt habe, ob Ours in Wirklichkeit die Hölle sein mag - und nicht der befreite Ort, an denen Negroes - so werden die befreiten Sklav:innen in dem Buch genannt - nun ihr befreites Leben leben. Vielleicht ist dies aber auch die Essenz des Buches - die Erkenntnis, dass die Freiheit nach all dem Schmerz, der Unterdrückung, der Entwürdigung, dem unerträglichen Rassismus auch zu einer Last werden kann, ist es doch unmöglich, sich seiner Erinnerung zu entledigen, auch wenn das Vergessen für die Protagonist:innen in "Ours" wichtig zu sein scheint.

Beziehungen zwischen den verschiedenen Charakteren sind schräg, manchmal mit (Homo)Erotik gespickt, sie wirken nicht natürlich, sondern immer problembehaftet. Besonderes Aufsehen wird um die Zeit gemacht, es ist schwer nachzuvollziehen, in welchem Jahr, Jahrzehnt oder gar Jahrhundert man sich gerade befindet. Dies ist einerseits etwas nervig, da der Text ohnehin so komplex ist, aber andererseits erhellend, weil gewisse angesprochene Themen zeitlos sind. So mühsam das Buch ist - oft habe ich innerlich geflucht und Qualen ausgestanden, so anstrengend fand ich das Lesen - so faszinierend ist er auch andererseits. Ich habe volle Hochachtung vor der Sprachgewalt des Autors, auch wenn er meines Erachtens die Geschichte durchaus auch mit der Hälfte oder gar nur ein Drittel des Umfangs ebenso gut erzählt werden hätte können. Hier eine Sternebewertung abzugeben fällt mir ungemein schwer, da mir nichts als passend erscheint, auch weil ich weiß, dass ich der Intention des Autors nicht gewachsen bin.

Mein Fazit: Für "Ours" braucht man Nerven und vor allem Geduld + Durchhaltevermögen - und sollte außerdem Liebhaber:in von komplexer Sachverhalte, gespickt mit Übernatürlichem und Gesellschaftskritik, sein. Ours macht es einer auch dann nicht einfach, es zu lieben, belohnt wird man aber trotzdem mit einer unglaublichen Geschichte, einem unerwarteten Ende und einem Nachhall, der einer noch lange in Erinnerung bleiben wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.01.2025

Einfühlsame Auseinandersetzung mit dem Vergessen

Alte Eltern
0

Volker Kitz arbeitet in seinem essayistischen Buch "Alte Eltern" die Demenzerkrankung seines Vaters auf. Äußerst gefühlvoll nähert er sich anhand seiner biographischen Erfahrung dem Thema an, erzählt die ...

Volker Kitz arbeitet in seinem essayistischen Buch "Alte Eltern" die Demenzerkrankung seines Vaters auf. Äußerst gefühlvoll nähert er sich anhand seiner biographischen Erfahrung dem Thema an, erzählt die Entwicklungsgeschichte der Krankheit seines Vaters, clustert dabei gewisse Themenblöcke, beispielsweise zu Erinnerungen oder Einsamkeit, und spickt sie mit fundiertem Expert:innenwissen.

Sein Text ist literarisch, emotional und ehrlich zugleich, trotz der Schwere und Traurigkeit des Themas zieht er die Leser:innen in den Bann, lässt sie mitfühlen und schafft es auf erstaunliche Weise, die Krankheit besser zu verstehen - und wie es Angehörigen im Umgang damit ergeht. Unweigerlich fühlt man mit, erahnt die innerliche Zerrissenheit, ganz besonders in jenem Kapitel, in dem es ums Loslassen geht. Ehrlich erzählt Kitz über die eigene Ungeduld und die anfängliche Unfähigkeit, die Wesensveränderung des Vaters aufgrund der Demenz zu akzeptieren. Wunderbar gelingt es dem Autor das Leben des Vaters und auch sein eigenes zu reflektieren, erkennt, wie wenig man doch über seine Eltern eigentlich weiß, besonders über jene Generation, die es nicht lernte, Gefühle zu artikulieren. Das stete Vergessen essentieller Dinge, das Zurückentwickeln macht betroffen, nichtsdestotrotz schafft es Volker Kitz einem die Angst vor der Krankheit etwas zu nehmen.

Mein Fazit: Alte Eltern ist ein einfühlsames Annähern an das Verstehen einer Demenzerkrankung anhand sehr persönlicher Erfahrungen, untermalt mit fundiertem Expert:innenwissen. Es ist für allgemein Interessierte an der Thematik ebenso informativ wie für Angehörige, die die Krankheit besser verstehen wollen, auch um erkennen zu können, dass sie nicht alleine sind. Ich hätte mir das Buch vor 20 Jahren sehnlichst gewünscht, als ich selbst Angehörige war. Es hat mich zutiefst berührt und mir die Angst vor der Krankheit ein Stück weit genommen, deshalb kann ich nur eine absolute Leseempfehlung aussprechen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.12.2024

Ein feministisches, ideologiefreies und solidarisches Plädoyer

Empathie und Widerstand
0

Auf den ersten Blick mögen Empathie und Widerstand nicht so richtig zusammenpassen. Kristina Lunz versucht jedoch in dem vorliegenden Werk aufzuzeigen, dass beide Begriffe untrennbar mit einander verbunden ...

Auf den ersten Blick mögen Empathie und Widerstand nicht so richtig zusammenpassen. Kristina Lunz versucht jedoch in dem vorliegenden Werk aufzuzeigen, dass beide Begriffe untrennbar mit einander verbunden sind.

Wer auf der Suche nach einem Sachbuch ist, liegt hier falsch. Vielmehr ist "Empathie und Widerstand" ein essayistisches Plädoyer für ein ideologiefreies, feministisches und solidarisches Handeln, um Veränderungen nachhaltig anzustoßen.

Ich selbst beschäftige mich viel mit Empathie und auch mit Widerstand, denn in bin von Beruf Sozialarbeiterin. Kristina Lunz' Buch hat es bei mir geschafft, viele neue Gedankenanstöße anzuregen bzw. mich in meinen eigenen Beobachtungen zu bestärken und mir auch etliche Aha-Momente zu bescheren. Überraschend war für mich beispielsweise, dass der Begriff "Empathie" nicht nur positiv gesehen werden kann, denn mit jemanden mitzufühlen, lässt uns auch dazu verleiten, eine Seite zu ergreifen. Nichtsdestotrotz ist Empathie auch wichtig, um in den Widerstand zu gehen, denn nur, wenn wir konträre Positionen mitfühlend betrachten, so die Autorin, kann es gelingen ihn oder sie vom Gegenteil zu überzeugen.

Eine besondere Rolle spielt für Lunz auch das "Peacebuilding", was durch seine Ideologiefreiheit funktioniert. Dem Begriff und seinen Akteur:innen werden einiges an Raum gegeben, genauso wie der "Sisterhood". Ebenso schildert die Autorin etliche Handlungsoptionen und spricht über Frauen, die durch Empathie und Widerstand erfolgreich wurden. Die Argumentation, weshalb beide Begriffe für die vorgestellten Personen so wichtig sind, schwächelt für mich aber ein wenig, ich konnte sie teilweise nicht nachvollziehen, weshalb ich hier einen Stern Abzug gebe.

Mein Fazit: "Empathie und Widerstand" ist ein leerreiches, essayistisches Buch, in dem die Autorin ihre Erfahrungen als widerständige und empathische Frau schildert und Erklärungen gibt, weshalb ein feministisches, solidarisches und ideologiefreies Handeln Veränderungen anstoßen kann. Es ist ein absolut lehrreiches Buch, für alle, die offen dafür sind, die Welt zu einem besseren Ort machen zu wollen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.12.2024

Unerzählbares grandios erzählt

Siebenmeilenherz
0

Katharina Winkler erzählt in "Siebenmeilenherz" das Unerzählbare: den sexuellen Missbrauch an einem Kleinkind. Die Erzählform ist teils märchenhaft - auch weil das Buch Märchen immer wieder als Referenz ...

Katharina Winkler erzählt in "Siebenmeilenherz" das Unerzählbare: den sexuellen Missbrauch an einem Kleinkind. Die Erzählform ist teils märchenhaft - auch weil das Buch Märchen immer wieder als Referenz verwendet - besonders im ersten Teil des Buches, als die Protagonistin und gleichzeitige Erzählerin Kind ist, verwendet sie eine Gedichtform, die das Erleben des Kindes in seinem naiven und elterngläubigen Weltbild absolut realistisch wirken lässt. Die Liebe des Vaters seiner fünfjährigen Tochter gegenüber ist so groß, dass das Herz ihrer Mutter stehen bleiben würde, wüsste sie davon - so erzählt der Täter es dem Kind. Der Missbrauch wird als Geschichte gestaltet, der Vater erzählt vom Mäuseloch, der Zauberritze, dem Horn und dem Zaubersaft. Die Missbrauchsszenen sind unpackbar, das Kind ist dem schutzlos ausgeliefert, glaubt, dieses Spiel sei normal, auch wenn sie weiß, dass sie nicht will, was geschieht.

Der Erzählstil wechselt, als die Protagonistin älter wird, es erfolgt eine Abkehr von der Lyrikform hin zur Erzählung. Trotzdem zeichnet die Autorin ein realistisches Bild von der Qual der Missbrauchten, wie sie sich in der Pubertät und darüber hinaus durch das Leben hetzt, sich selbst verletzt, beziehungsunfähig zu sein scheint. Der innere Kampf, der nichts sehnlicher will, als ein Eingeständnis des Vaters für das Unrecht und den Schmerz, den er ihrer Seele angetan hat, ist absolut nachvollziehbar.

So grausam das Thema ist, so großartig ist es der Autorin gelungen, das Innenleben einer Missbrauchten zu erzählen, es den Lesenden fühlen zu lassen. "Siebenmeilenherz" kam wohlverdient auf die Shortlist des Österreichischen Buchpreises, auch wenn es bedauerlicherweise nicht ausgezeichnet wurde. Es ist literarisch ein Meisterwerk, auch wenn es ob der schockierenden Thematik nicht für jede/n geeignet ist. Es stellt ein großes Risiko dar, dieses Thema literarisch zu bearbeiten, glaubhafter könnte es aber nicht dargestellt werden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 23.12.2024

Eine fühlbare Trauer

Von dem, der bleibt
0

Kurz nach der Trennung nimmt sich Matteo Bianchi's Ex-Partner "A." das Leben - in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung. Die Trauer, die Bianchi fühlt, ist unfassbar, doch schafft es der Autor, sie fühlbar ...

Kurz nach der Trennung nimmt sich Matteo Bianchi's Ex-Partner "A." das Leben - in ihrer ehemals gemeinsamen Wohnung. Die Trauer, die Bianchi fühlt, ist unfassbar, doch schafft es der Autor, sie fühlbar zu machen. Matteo Bianchi nimmt uns in seiner autobiographischen Traueraufarbeitung "Von dem, der bleibt" mit in die schwerste Zeit seines Lebens. Er vermittelt uns seinen Schmerz so, dass man ihn schier miterlebt. Die Ohnmacht wirkt greifbar, er klammert sich an viele Strohhalme - mögen sie auch noch so absurd sein, wie der Besuch bei mutmaßlichen Totenmedien - um zu verstehen, weshalb "A." den schlimmsten Schritt setzte, den sich Angehörige vorstellen können.

Der Schreibstil des Autors ist emotional direkt, er verheimlicht nichts, geht offen mit Trauer, Selbstvorwürfen, Zweifeln und Anschuldigungen um. Die kurzen Kapitel ermöglichen immer wieder ein kurzen Innehalten. Bianchis Sprache ist in weiten Teilen literarisch beeindruckend und thematisch ergreifend. Er zeigt auf, dass es für die Hinterbliebenen unmöglich ist, den Suizid zu fassen, geschweige den zu verstehen und dass es ein langer Prozess des langsamen Heilens ist. Zudem wird aufgezeigt, dass sich in den letzten 25 Jahren gesellschaftlich auch etwas getan hat - war das Thema Suizid lange Zeit tabuisiert, erhält es langsam mehr Aufmerksamkeit und es beginnt die Möglichkeit, offen darüber zu sprechen, auch wenn eine endgültige Endtabuisierung noch nicht in Sicht ist.

Bianchi gibt Hoffnung, dass "Überlebende", wie er die Hinterbliebenen nennt, auch heilen und die Trauer überwinden können, auch wenn der Weg beschwerlich ist und die hinterlassene Lücke niemals geschlossen werden kann. Der Autor hat immer wieder das Gespräch mit anderen Betroffenen und Expert:innen gesucht, um zu verstehen, weshalb Menschen ihr Leben beenden und wie den Hinterbliebenen geholfen werden kann. Besonders zum Ende hin - hier steigt die Erzählperspektive aus der Emotion in die Sachlichkeit - vermittelt er Zuversicht, dass der schmerzhafte Trauerprozess schlussendlich ein Ende finden kann.

Mein Fazit: "Von dem, der bleibt" ist ein höchst berührendes, emotionales Buch über die Trauer eines Hinterbliebenen nach einem Suizid, dass nachvollziehen lässt, wie der Kreis des Trauerns - mit all seinen düsteren Facetten - funktioniert und wie er schließlich auch durchbrochen werden kann. Eine absolute Leseempfehlung für alle Betroffenen, um Hoffnung zu schöpfen und alle Interessierten, die sich auf eine emotionale und glaubhafte Aufarbeitung einlassen können.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere